„Wasserstätten“ von Safak Sarıçiçek
Der Lyriker und Jurist Şafak Sarıçiçek hat seit 2017 bereits sechs Gedichtbände bei Lyrikverlagen wie dem Elif Verlag, der edition offenes feld und dem Verlag Brot und Kunst veröffentlicht, „Wasserstätten“ ist sein sechster Titel, der in der Lyrik Edition Neun
erschienen ist. Das Buch ist eine unverhohlene Hymne an das Fließen des
Wassers, aber auch Kritik an Kapitalismus und Gesellschaft fließen in seine Dichtung mit ein.
Die Bände der Lyrik Edition Neun enthalten stets einen Linolschnitt des Autors und zwei weitere Linolschnitte, die vom Dresdner Grafiker Steffen Büchner stammen. Das Werk enthält neben diesen optisch ansprechenden Kunstwerken 27 Gedichte, die bei Sarıçiçek mal kürzer, mal mittellang ausfallen. Langgedichte bilden die Ausnahme. Die Lyrik von „Wasserstätten“ folgt auch ohne Reim einem Rhythmus, verfügt über etwas Eingängiges, etwas, das den Leser und die Leserin in den Bann zieht und dazu führt, dass man nicht aufhören möchte, sich mit diesem schmalen Band zu befassen.
Safak Saricicek bei Lesung in Osterode 2023 |
Der erste Abschnitt (von dreien) steht unter dem Motto „Bei den Wasserstädten“, zu Beginn taucht das lyrische Ich in das titelgebende Element Wasser ein, mit dessen Dahinfließen es sich befasst:
Unter der Wasserhaut knistert und knackt
Tier der Stille
Es herrscht wenn die Stille rauscht
Gedanken
wortführende Gedanken
treiben Autobahnen zur Blüte
Bei Sarıçiçek geht es aber nicht um eine rein ästhetisierte
Kontemplation zum Thema Wasser, er macht sich auch kritische Gedanken
zur Gesellschaft. In „Sortiment“ schreibt das lyrische Ich etwa über
„vielzellig pluripotente / Pecunia“, „Verantwortung messen am
Kontostand“ oder „kannibalische Westenträger“.
Die in Sarıçiçeks Lyrik immer wiederkehrenden Verbindungen lassen ob
ihrer Ungewöhnlichkeit aufhorchen und wenn man auch nicht so weit gehen
möchte, von Oxymora zu sprechen, so muten sie doch mitunter surreal und
zugleich äußerst kunstvoll an, ja mitunter sogar hinreißend, wenn zum
Beispiel das lyrisch Ich im Gedicht „Wasserstädten“ schreibt:
Fäden ziehen vom Abgasgeheule
und von Hochhäusern
Fäden delfingepflügt blaugischtig
Murmeln spielen mit dem Weiher
Auf Halbinseln einen Kirchturm bauen
und siedeln ringsherum
wie süße Bajonette
Das Assoziative, Momentane, die Impressionen dominieren in der Lyrik
von „Wasserstätten“. Vereinzelte Anglizismen aus der heutigen
Alltagswelt sollen dem Text Aktualität verleihen und der modernen
Technik in den Texten Rechnung tragen („Welten entrollen sich in einer
App“). Die Anglizismen, die neben lateinischen Wörtern, Onomatopoetika
und Eigennamen stehen, wirken allerdings bisweilen etwas deplatziert.
Die Gedichte Şafak Sarıçiçeks könnten auch im Deutschunterricht
behandelt werden, denn der Autor könnte mit seinen zeitkritischen Texten
auch junge Leute adressieren. Ein Beispiel hierfür stellt „Zu Fuß
gehen“ dar:
schwierigste Angelegenheit am Tag
Menschen begegnen
schwer im Heuteschritt
Grüßt man • grüßt nicht
Wenn nicht • wohin der Blick
Nach vorn • den Vögeln nach
Trägt Lächeln man
tragen es zurück?
Schmunzelt ohne Beschwer?
Man.
Das „Man“ steht hier für die Gesellschaft, die mit dem lyrischen Ich kontrastiert, mit dem sich der Leser und die Leserin vergleichen oder identifizieren kann. Wem ist es nicht schon einmal passiert, dass man jemanden auf der Straße nicht grüßen wollte und doch musste, weil es ein Gebot der Höflichkeit war? Dabei bezeichnet das „man“ im Text immer zugleich Beobachter und Beobachteter selbst, Individuum und Teil einer sozialen Rolle, die reflektiert wird.
Ein Gedicht mit Lokalkolorit in dem Band ist „Osterode“: Darin geht es um die Stadt im Harz, wo „Monteure Waldarbeiter Holländer Dänen / am kakophonen Einsamkeitstisch“ hausieren und „harzen teeren giebeln erkern“. „Ein Bach rinnt die Schnurgrenze entlang / schnurrt weich / zwischen Industriescheinschwerfern und Steinbruchhalden“. Nur kurz darauf folgt ein Gedicht über einen „Ägäischen Hafen“. Offenkundig haben es dem Autor die vergessenen Orte angetan, die entweder in den Bergen oder am Wasser liegen müssen. Es sind die Wasser- und Windstätten, die Sarıçiçek faszinieren.
Das Kapitel „Fischfresser“ widmet sich ganz jenen vergessenen Menschen, die in der Gesellschaft oft zu kurz kommen. Sie möchte Sarıçiçek stärker ins Licht rücken. Da wären das Prasseln des Siedefetts, oder der Rotationsmitarbeiter, der sich durch seinen „schizophrene[n] Umriss“ auszeichnet und sich als Tintenfisch denkt. Da gibt es zudem den Verkäufer mit dem aufgesetzten Lächeln zwischen Kartons, Mindestlohn und Fisch, Teller und Remoulade, der am Ende in den Feierabend entlassen wird. Und zuletzt begegnen wir dem Spüler:
In Einöden überfluteter Betriebsböden
stochert ein Kahn auf Arbeitsschuhen
nach festem Grund
vollbeladen mit zerfetzten Fischlaiben
ganz oder teils geerntet ein Fleischfeld
mit frisch gezapfter Diabetes
[…]
im Spülraum umgrenzt
im Hausarrest in Innerlichkeit gegen
und für das Diktat aus Kassen […]
Durch die Gedichte dieses Bandes über die Wasserstätten ziehen sich selbstverständlich Motive des Maritimen, des Meeres und Wassers, der Fische und Fischlaibe, die uns immer wieder in verschiedenen Aggregatzuständen, mal frisch, mal älter, über den lyrischen Weg laufen und so etwas wie einen roten Faden durch die ca. 30 Texte bilden. Tiere, Leib, das Körperliche – das ist für Sarıçiçek ein wichtiger Bestandteil seiner lyrischen Beobachtungen, das Sinnliche spielt in seiner Lyrik eine ebenso entscheidende Rolle wie ein Schizophrenes, das der Welt Entrückte:
Überläufer wechselwarm
tänzelnder Fisch im Kittel
Kitt so sehr Kitt
kompartmentalisiert
eifrig überlaufend
zwischen Türen mollusk
mein schizophrener Umriss
hab mich als Tintenfisch gedacht
als Tintenfisch
camouflagier mich mit Umgebungsfarben […]
Alltägliche Beobachtungen werden in Sarıçiçeks Gedichte mit eingebunden, als verarbeite der Autor damit auch, was ihm tagtäglich widerfährt. Aber die Aktualität dieser Lyrik geht darüber hinaus und spiegelt sich in seinem Verfahren wider. Wir erleben in dieser Lyrik den Harz genauso wie Griechenland, seine Bewohner, die „einfachen Leute“ und die Dinge des Alltags, aber auch das Außergewöhnliche, das Entlegene, Vergessene und Entrückte, in einer splitterhaften Welt.Manchmal fühlt man sich an den Impressionismus erinnert, an die Bilder eines Monat, Renoir oder Manet, die aus lauter Pinselstrichen und Punkten bestehen und sich aus einzelnen Eindrücken zusammensetzen. Da wir heute wieder am Beginn eines Jahrhunderts stehen, das von Krisen gebeutelt zu sein scheint, passt diese etwas fragmentierte und doch durchkomponierte Lyrik gut zur aktuellen Gefühlslage. Doch während im Impressionismus sich die einzelnen Punkte zu einem stimmungsvollen größeren Ganzen zusammensetzen, bleiben die visuellen und mentalen Eindrücke in diesem Band fragmenthaft, bilden Inseln von Imaginationen, nur verbunden durch die Bezüge zwischen den Gedichten des Lyrikbandes.
Florian Birnmeyer
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