Lyrik Edition NEUN

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Mittwoch, 13. April 2022

Lesung Gabriel Wolkenfeld im LCB

Gabriel Wolkenfeld im LCB Berlin:

Da-Zwischen

12.04.2022
Literarisches Colloquium Berlin · Am Sandwerder 5 · 14109 Berlin

Mit Fatma Aydemir, Krisha Kops und Gabriel Wolkenfeld
In der Reihe STOFFE. Woraus besteht die Gegenwartsliteratur?

 

 Gabriel Wolkenfeld, 12.04.2022 (rechts im Bild)

Auf der Webseite des LCB:     Literarisches Colloquium Berlin 

sind diese 5 Dichtungen von Gabriel Wolkenfeld veröffentlicht:

 

5 Stoffe

von Gabriel Wolkenfeld

Leinen

Ein Stoff, dem man seine Herkunft anmerkt. Einer, der nicht verleugnet, dass er Natur ist, der Erde entwachsen, durchlässig für Wind und Regen, anfällig für die Nacht. Für das Bild braucht es einen blauen Himmel und ein Weizenfeld, durch das man gemächlich schreiten kann. Die Hände streichen über die reifen Ähren, aus denen das Korn fast von allein herausfällt. Die kokette Stickerei auf der Brust ist DNA, QR-Code oder Signum. Den Eingeweihten verrät sie die Herkunft. Babusja Lesja schwört: Sie wehrt die Dämonen ab, die sich, vorzugsweise über Brust, Ärmel oder Kragen, Zugang zum Körper verschaffen. Auf Lesungen, behauptet meine Luftschlossagentin, wehrt die Wyschewanka dumme Fragen und hässliche Kommentare ab. Ich trage sie als einen Gruß an das Land, das mir, ohne allzu viele Dokumente zu fordern, ein zweites Zuhause wurde.

 

Brokat

Die Einsamkeit ist ein Kleid, das keine großen Schritte erlaubt. Angenehm trägt es sich nicht. Die Haut kann nicht atmen. Es verleitet nicht dazu, Luftsprünge zu machen oder allzu freigiebig Umarmungen zu verteilen. Die Träger schneiden ins Fleisch. Ständig ist man versucht, sich an Stellen zu kratzen, die unerreichbar sind. Umso länger man dieses Kleid trägt, desto schwerer wird es. Wenn niemand hinschaut, löse ich die Schnürung. Zugegeben: Es ist traumhaft schön. Mir schmeicheln die Raubtierblicke der Frauen, die sich fragen, wie ihnen dieses Kleid wohl stehen würde, die Scheu in den Augen der Männer, die es nicht wagen, eine schlüpfrige Bemerkung in meine Richtung abzufeuern. Ich sehe reich aus, wie ausgeschnitten aus einem Gemälde, das im Louvre hängt. Die Billigvarianten aus dem Online-Handel bringen es nicht. Einsamkeit kann sich eben nicht jede leisten. Ich trage mein Kleid im Hinterhofverlies, aber auch wenn ich unter Menschen bin, auf Tagungen oder Empfängen. Obwohl ich es nie in die Reinigung gegeben habe, zeigt es keinerlei Abnutzung. Es sieht aus wie neu, aber es ist hundert Jahre alt.

 

Seide

Die Nacht ist aus Seide gemacht, nicht von Raupen gesponnen, sondern von friedliebenden Ungeheuern, von durchgedrehten Kräuterfrauen erdacht. Die Nacht ist das Epizentrum meiner Gedanken. Die Stimmen, die tagsüber auf die Lautstärke eines Bienenschwarms anschwellen, streben nachts auseinander. Sie verflüchtigen sich. Und ich kann sie vernehmen, erst gedämpft, ein Glucksen, wie unter Wasser, dann bestimmter: die eigenen Gedanken. Eine Stimme, die ich mir mit niemandem teilen muss. Die Nacht, versetzt mit Scherben und Schnaps, ist die Heimat für Rumtreiber, auch für jene, die sich nicht erheben. Die stockfinsteren Stunden sind die Zeit für das Zwiegespräch mit den Ikonen. Wenn ich schreibe, sitzen Yehuda Amichai, Marina Zwetajewa und Paul Celan an meinem Tisch, an seiner Seite die Bachmann, that crazy Mayröcker girl. Ulrich Koch. Grigori Kanowitsch, Ljudmila Ulitzkaja, Isaac Babel. Virginia Woolf und Sarah Kane.

 

Samt

Ich trage das Käppchen fast nie. Es auszusortieren aber wäre undenkbar. Ich bewahre es im Kleiderschrank in Schmucknähe auf. Wenn ich auf Reisen gehe, gehört es zu den zehn Utensilien, auf die ich nicht verzichten kann. Zu viele Geschichten habe ich gehört von Menschen, die nicht zurückkehrten. Das Käppchen ist aus nachtblauem Samt. Den Saum entlang schlängeln sich Silberfäden, die sich umgarnende Tränen bilden. Ich habe es vor Jahren geschenkt bekommen. Von einem Mann, der es von seinem Vater hatte und in meiner Seele seinen verstorbenen Sohn zu erkennen glaubte. Ich habe kein Erbe angetreten. Ich bin hineingestolpert.

 

Pailletten

Ich mag Pailletten. Für meinen Geschmack kann es gar nicht genug glitzern und funkeln. Ich mag Perlen und Ringe, Halsketten, Broschen. Ich mag Federn. Ich mag alberne Hüte und absurde Accessoires. Ich mag ausladende Gesten. Ich schätze die Möglichkeit, durch einen kleinen Eingriff oder ein wenig Puder, zu korrigieren, was die Natur missverstanden hat. Freuen wir uns, dass wir nicht auf unsere Gene festgelegt sind und lernen wir, auszubrechen aus den Mustern, die uns zugewiesen sind. Ich muss durch die Wahl meiner Kleidung nicht bestätigen, was ich bin. Warum sollte ich es in Form und Schnitt wiederholen? Nur damit auch der Allerletzte ein Wort für mich findet? Ich muss nicht Pailletten tragen, um zu schillern. Aber ich kann.

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