Am 7. November 2023 in der "Frankenpost" ein große Seite mit einem Bericht zu einer Veranstaltung und Gespräch von und mit Reiner Narr zu seinem Gedichtband Rabenhaupt:
Artikel von Nico Schwappacher:
Der Verse aus Träumen schöpft.
Der in Issigau aufgewachsene Dichter Reiner Narr lässt sinnliche Wortbilder aus seinem Unterbewusstsein sprießen. In Hof könnte sich mancher an ihn erinnern: als jungen Poeten im „Grufti"- Look HOF/ISSIGAU/BERLIN.
Nach dem letzten Wort zoomt die Kamera direkt auf das Auge. Hochtoupierte
Haare, weiß geschminktes Gesicht, schwarzer Kajal - ein Anhänger der
Gothic-Szene. Vielleicht erinnert sich mancher Hofer an die Szene. An
jenem Tag, an dem er seine düsteren Worte am Sonntagnachmittag im ZDF
verlesen darf, feiert der Poet seinen 16. Geburtstag. Die Stadt Hof
hatte Reiner Narr entsandt, um sie im „Städteturnier" zu vertreten, in
dem einst die Kulturszenen verschiedener Städte vor laufenden Kameras
gegeneinander antraten.
Immerhin
hatte unsere Zeitung den in Issigau aufgewachsenen Poeten bereits im
Alter von zwölf Jahren als literarisches Wunderkind gefeiert. Eine
Freundin der Mutter hatte unserer Zeitung Gedichte des Knaben zukommen
lassen - was die Aufmerksamkeit der Hofer Kulturszene auf ihn lenkte.
„Anders kann ich's nicht sagen",
so
erklärte er damals, noch als schüchterner Junge, seinen Drang zur
Feder. Vier Jahre später - da fällt das lange schwarze Haar bereits auf
einer Kopfseite schulterlang herab - gibt er verheißungsvoller zu
Protokoll:
„Die Reise geht weiter immer voran, ich darf nicht aufgeben und mich der Dunkelheit überlassen."
Aus dieser Motivation erwuchs wohl auch der erste Gedichtband, den der inzwischen 48-Jährige in diesem Jahr vorgelegt hat:
„Rabenhaupt" heißt das Büchlein, auf dessen 32 Seiten Narr seine Leser durch atmosphärisch dicht gewobene Traumbilder führt.
„Wir trinken Zwielicht aus kleinen Tassen und wiegen uns sanft mit dem Baum, der den Mond trägt in seinem Haar.“
„Rabenhaupt"
- in der Alchemie steht dieser Begriff für den schwarzen Niederschlag
auf Quecksilber, der bei der Herstellung von Quecksilberoxid entsteht.
Auf dem Weg hin zum Hellen, zum Stein der Weisen, braucht es also
zunächst einen Status des Dunklen, des Unreinen.
Aus der Dunkelheit destilliert ist denn auch Narrs Buch-Debüt:
Eine
Krebsdiagnose im Jahr 2020 war es, die in ihm den Gedanken, das eigene
Schreiben wieder ernsthafter zu betreiben, zur Frucht gedeihen ließ.
„Auf dem Heimweg zähle ich die Sterne, die verhalten und kühl durch die schwarze Wolkendecke funkeln.
Bei jedem Neuen denke ich:
es gibt keinen Tod,
es gibt keinen Tod,
es gibt ihn einfach nicht."
Am
21. November stellt Narr seinen Band bei einer Lyrik-Performance in der
Stadtbücherei Hof vor. Atmosphärische Musik wird dabei die Worte
untermalen. Der „Grufti" aus der Buchhandlung. Doch
noch einmal ein Zeitsprung, zurück in die frühen 1990er-Jahre: Reiner
Narr ist Teenager - und gehört in Issigau nicht zu den coolen Kids.
Dichter und schwul - und
dann
noch „Grufti", wie damals viele die Anhänger der Schwarzen Szene mit
einem Unterton von Unverständnis und Abwertung titulierten.
Der Weg zur Schule durchs Dorf sei ein Spießrutenlauf gewesen: „Die Leute dachten: Der schläft im Sarg, spritzt Hasch und hat Aids", erzählt er.
Schon
deshalb hält sich Narr damals lieber in Hof auf, also in der Stadt, wo
es in vielen Köpfen ein wenig toleranter zugeht. Dort macht er eine
Ausbildung zum Buchhändler, im damaligen Gondrom in der Altstadt. Wegen
seines extravaganten Äußeren sei er dort schnell bekannt gewesen „wie
ein bunter Hund". „Und wegen der Dichterei hatte ich auch eine gewisse Narrenfreiheit", merkt er an. Gleichgesinnte kommen in den Laden, um zu plauschen - da seien auch Freundschaften entstanden.
„Ich hab mein Segel gehisst auf den Wassern der Zeit.
Der Wind, der mich antreibt, ist die Liebe."
In Dialog mit dem Unterbewusstsein
1995
zieht Reiner Narr nach Berlin, wo er bis heute lebt. 17 Jahre lang
arbeitete er dort als Buchhändler in einem Buchladen, dessen Sortiment
sich an Schwule, Lesben und andere Angehörige der LGBTQ+-Community
richtet. Auch ein Studium unter anderem der Religionswissenschaften
absolviert er in der Bundeshauptstadt, nicht zuletzt aufgrund
seiner in der durchaus bildungsbeflissenen Goth-Subkultur gewachsenen Faszination
für das Numinose und seine vielfältigen Manifestationsformen in der Kunst.
Texte
zu schreiben wie Robert Smith, Frontmann der englischen
Post-Punk-Legende The Cure, habe er sich damals zum Ziel gesetzt,
nachdem eine Freundin der Mutter ihn im Teenager-Alter mit Schallplatten
versorgt hatte.
Der
Goth-Szene als solcher fühlt sich Narr heute nicht mehr zu-gehörig,
wenngleich eine Vorliebe für die verschroben-surrealistischen
Wort-
und Klanggebilde in ihrem Umfeld goutierter Avantgarde-Gruppen wie
Current 93, The Legendary Pink Dots und Coil noch immer aus seinen
Zeilen hervorblitzt.
Spiritualität und das Okkulte - für den Dichter sind sie nicht bloß schicke ästhetische Konzepte.
Denn
seine Worte entspringen jenem Ort, den der moderne Mensch so oft als
unheimlich zu verkennen pflegt, weil er sich den Imperativen von
Kontrolle und direkter Nutzbarmachung, den Bedürfnissen und Erwägungen
des Egos entzieht: dem Unterbewusstsein.
Worte
dafür zu finden, was seine Lyrik eigentlich ist, dazu nötigte Narr
ausgerechnet - ganz profan - ein anderer Patient bei einer Reha, auf die
der Poet eigentlich gar keine Lust hatte, „weil ich dachte, da sind nur
ältere Männer mit Prostataproblemen".
Was
wir bewusst wahrnehmen, „das Wachbewusstsein", erklärte er ihm, sei nur
wie die Spitze eines Eisbergs. Der Rest befinde sich unter Wasser. Nun
stelle man sich den Eisberg als eigenständiges Wesen vor, das versucht,
über Eingebungen und Träume mit uns zu kommunizieren. „Wenn es diesen
Dialog einfängt, ist es für mich ein perfektes Gedicht", betont Reiner
Narr.
„Doch nun hab ich mich erinnert, dass ich träume, und nicht nur einen Traum, sondern sehr viele."
Lyrik ist heute Nische
Dass
Lyrik, noch dazu düstere, die sich einem unmittelbaren Verständnis
entzieht, heute nur in der Nische existieren kann, weiß Narr Nur wenige
Hundert Exemplare gibt es von seinem Gedichtband - ausverkauft sind sie
längst nicht. Ein schier endloses Angebot an Belletristik läuft den zu
kleinerer Form geschliffenen Juwelen der Wortkunst den Rang ab. Auch bei
Lesungen seien die Reaktionen oft unvorhersehbar, reichten von Unverständnis
über Gleichgültigkeit bis zu Begeis terung. Beim Poetry Slam, jener
modernen Form des Dichterwettstreits, bei dem Wort-künstler in lockerem
Rahmen vor Publikum gegeneinander antreten, habe er keine Chance, findet
Narr. „Dafür muss man entweder politisch sein oder lustig“
Sein bisher dankbarstes Publikum habe er jüngst in einem Kreis von Bildungsbürgern deutlich gesetzten Alters gefunden. Warum?
„Vielleicht, weil die näher am Tod sind", mutmaßt der Künstler - nicht ohne ein Schmunzeln. Er
sehnt sich nach Tiefe. Ob er sich eine Wiederverzauberung der Welt
wünschen würde, wie sie einst die Romantiker forderten? Er bejaht.
Der wild wuchernde Materialismus der modernen Welt - für ihn ist er auch Symptom ausbleibender Innenschau. Vielleicht liegt im Traum ja der Schlüssel zu einer besseren Realität? Vielleicht ist der Traum ja das Echte selbst?
„Du
musst nur in die Stille lauschen, dann erblüht die Sprache der Vögel in
der Klaviatur des Lichts, das sich in den geschliffenen Steinen die auf
deinem Sims liegen, bricht.
Dies
ist ein Abgesang auf die Welt, die bare Münzen für bare Münze hält
statt für die Knechtschaft der schwarzen, machtglitzernden Schlange“
Gut zu wissen:
Die Lyrik-Performance in der Stadtbücherei Hof beginnt am 21. November, einem Dienstag, um 20 Uhr. Reiner Narr ist dabei nicht alleine: Er hat die bekannte Künstlerin Luci van Org dabei. Mit ihr verbindet den Dichter - künstlerisch wie privat - eine Freundschaft.
Bekannt wurde sie in den 1990er-Jahren als Frontfrau des Duos Lucilectric, das den Superhit „Mädchen" (Keine
Widerrede, Mann, weil ich ja sowieso gewinn, weil ich ein Mä-ä-a-ädchen
bin!") landete. Mit ihrer neuen Band Lucina Soteira - deren
mystisch-psychedelischer, eher melancholischer Rocksound mit
Lucilectric nichts mehr gemein hat - veröffentlicht sie in diesem Herbst
ein neues Album. Zu jedem der Songs hat Narr - frei assoziiert - ein
Gedicht geschrieben.
Und
so kann der Dichter denn auch selter lokalisieren, wo seine Ideen
herkommen. Es fängt immer an mit einem flüchtigen Gefühl oder einem Bild
im Kopf", erklärt er. Dann sind da zwei, drei Wörter, eine erste Zeile,
ein Satz." Davon ausgehend baue er das Grundgerüst, an dem er feile, so
lange, bis jede Silbe auf gewünschte Weise mitschwimmt im Strom der Worte.
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