Renate M. Riehemann: „Schneevogel“
November 2023 – Empfehlung des Monats von Marianne Beese
Vergehende Zeit im Spannungsfeld zwischen
Scheitern und Gelingen. Existenzielle Grund- wie Grenzsituationen, in
formbewusste Lyrik gefasst
Link zur Rezension ... auf der Seite der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V., Leipzig:

Für Renate Maria Riehemanns Lyrikband „Schneevogel“, der adäquat
durch den Künstler Steffen Büchner illustriert wurde, lässt sich, so sei
vorweggenommen, eine nachdrückliche Lese-Empfehlung aussprechen. Es
sind in dem schmalen Band Gedichte versammelt, die mit ihrer
existenziellen Ernsthaftigkeit und Tiefe berühren, ja erschüttern, da
sie den Menschen in Grenzsituationen sowohl individueller als auch
übergreifend-zeitgeschichtlicher Art zeigen und dabei wichtige Themen
der Gegenwart wie der jüngeren Vergangenheit einbeziehen. Insistierend
wird die Frage nach der Beschaffenheit der vergehenden Zeit gestellt,
wobei mögliche Antworten lauten: Liebe und Vertrautheit werden zu
Fremdheit; das Leben erscheint gefährdet durch den Tod bzw. mündet in
diesen; Frieden wandelt sich in einen besonders das Leben der Kinder
beeinträchtigenden Krieg; das Erbe der Vergangenheit erdrückt
nachfolgende Generationen. Manchmal aber wirkt auch ein ‚Schutzzauber‘;
greift eine Hoffnung Raum – oder ist es, als rängen das Zerstörerische,
Kalte, Erstarrte und das Lebendige, in die Zukunft Weisende miteinander
und ein neuer Anfang würde möglich.
Über die Themenwahl hinaus sprechen die Texte auch an durch ihre auf
den ersten Blick eher spröde wirkende Form, deren Vielfalt und Schönheit
sich dann jedoch erschließt.
Um weiter ins Detail und der Frage nachzugehen, woraus die Gedichte
ihre Intensität beziehen: Sie leben von der Vielschichtigkeit und z.T.
Disparatheit ihrer Vorstellungsbereiche; zugleich von dem
Formbewusstsein, mit dem sie geschrieben wurden. Sind die existenziellen
Grund-, aber auch Grenzsituationen, die aufgegriffen werden, Krankheit,
Sterben, Krieg und verlorene Kindheit, so doch ebenso Glück,
Selbstbehauptungswille, Fähigkeit zum Träumen, Hoffnung… und Liebe, die
einmal ungebrochen zugegen war.
Oft sind in den Texten die Kontraste des scheiternden wie des
gelingenden Lebens auf engem Raum vereint; geht es um zustande kommende
oder versagende Kommunikation, um die Interaktion des Einzelnen mit dem
gesellschaftlichen Umfeld, aber auch um die Zwiesprache von Mensch und
Natur. Spielt das Phänomen ‚Zeit‘ eine dominierende Rolle, so ist
gestaltet, wie sich diese konstituiert; wie sie innezuhalten scheint
oder wie sie zerstört wurde… um doch wieder in einen Beginn zu münden.
Das Zusammenfügen des Disparaten zeigt sich schon in dem Titelgedicht
„Schneevogel“, wo das menschliche ‚Ich‘ mit einem Vogel seine Gestalt
tauscht und dessen Bewegungsmuster nachvollzieht.
Wie in diesem Gedicht gibt sich in weiteren Texten das
Metamorphose-Prinzip zu erkennen; das der Verwandlung des ‚Ichs‘ ins
Pflanzliche oder Tierhafte bzw. das Verschmelzen von Tier- und
Menschengestalt zu einem Dritten.
Neben solchen Anklängen des Mythologischen und Märchenhaften spielen
auch Naturphänomene eine Rolle, wie der Tages- und der
Jahreszeiten-Zyklus, oder beispielsweise eine Mondfinsternis, und sie
werden in ihrem Symbolgehalt gedeutet. Es tauchen ferner
Alltags-Schauplätze wie Kneipe oder Café oder ein Garten auf, doch
weisen diese über sich hinaus und erhalten ebenfalls
Verallgemeinerungswert bzw. werden transparent auf ein weiterführendes
Geschehen, das sich in ihrem Umkreis abgespielt hat.
Das besagte Formbewusstsein zeigt sich in den Gedichten unter anderem
darin, dass sie mehrfach die Sonettform aufweisen; also ein bestimmtes
Metrum und Reime enthalten – und dadurch eine Klangstruktur gewinnen,
die an Musik denken lässt.
Das erste Kapitel des Bandes – „Auf dem Weg“ – vereint Liebes- und
Erinnerungsgedichte, in denen das lyrische ‚Ich‘ unmittelbar spricht und
in den Dialog mit einem ‚Du‘, einem Gegenüber, tritt. Die schon
benannten Verwandlungsmomente treten in Kraft, wenn bereits im ersten
Text („Unter meiner Birkenrinde“) ‚Mensch‘ und ‚Baum‘, hier: eine Birke,
ihre Gestalt vertauscht haben bzw. das ‚Ich‘ zumindest partiell
pflanzliche Attribute angenommen hat.
Von der Zeit-Struktur her ist eine Situation gezeichnet, die zwischen
‚Nicht.-mehr‘ und ‚Noch-nicht‘ verharrt. Vergangenes – offensichtlich
eine Liebesbeziehung oder doch die Beziehung zu einem vertrauten, nahen
Menschen – ist noch präsent und es gilt, Erinnerungen zu überwinden,
zumal diese den Blick auf das Noch-Mögliche, für das die Gartenbank
gleichnishaft steht, zu „versperren“ drohen. Die Bank wird zum Ort der
Unentschiedenheit, an dem Vergangenheit und Gegenwart zusammentreffen,
und das „Warten“ dort erscheint in seinem Ausgang offen. Ist es das
Warten auf den einst geliebten Menschen – oder auf das endliche
Überwinden-Können der verlorenen Beziehung? Letzteres deutet sich an,
wenn die Bitte des ‚Ichs‘ an die Nachtigall ergeht, einen Platz auf
ihren Schwingen einnehmen zu dürfen. Dies assoziiert Aufbruch, evtl. in
Form des Gesangs/der Poesie – welche zugleich in einen Zustand des
Klarheit-Gewinnens führt, mit dem sich auch etwas Befreiendes auftun
wird.
Das Gedicht „Mein Federkleid“ handelt ebenfalls von Verwandlung und
von einer Paar-Beziehung, deren Ausgang ungewiss ist. Der Text scheint
auf den ersten Blick Konkretes auszusprechen, doch erweist er sich im Zusammenspiel der miteinander unvereinbar
anmutenden sprachlichen Elemente als kryptisch. Es deutet sich eine
gewisse Dramatik der Situation an – als habe ein Kampf stattgefunden,
welchem vorausging, dass sich das ‚Ich‘ wieder in eine andere, genauer:
eine Vogel-Gestalt begab und in dieser das mit Leichtigkeit,
Flugvermögen, aber auch Schutz assoziativ zu verbindende „Federkleid“ an
ein Gegenüber weiterreichte, welches das magische Accessoire als
Selbstverständliches nahm oder gar achtlos damit umging, wodurch es sich
in „ein altes Hemd“ zu verwandeln schien. Die Gabe, der eine Funktion
des Beschützens zugedacht war, wurde sodann in jenem nur angedeuteten
Kampf „zerschlissen“; der zu beschützende Mensch „zerschlagen“, so dass
als mögliches Resümee bleibt, dass ein Schutzzauber nichts bewirkt hat.
Dies wiederum löst Hilf- und Ratlosigkeit im ‚Ich‘ aus – wobei jedoch
der Text in einer Weise endet, die einen möglichen Ausweg aus der
Situation zuzulassen scheint.
Der titelgebende Text „Schneevogel“ lässt sich, so klang schon an,
gleichfalls als ein solcher lesen, in dem die Metamorphose eines
Menschen-‚Ichs‘ in eine Vogel-Gestalt stattfindet. Dies führt zunächst
aber nicht zu Aufbruch bzw. Aufschwung; zur Überwindung der Schwere,
sondern endet im „freien Fall‘; dem offensichtlichen Absturz in Schnee,
also ins Erstarrte, Kalte – wobei es jedoch um ein Wieder-Auffliegen
oder besser: Flattern zu gehen scheint, denn das „mit gepuderten Federn /
Flü – gel in – den – Schnee / [S]chla – gen“ assoziiert auch einen
Rettungsversuch; ebenso wie es andeuten mag, dass der „Schneevogel“ ein
Zeichen setzen bzw. eine-Spur seines Dagewesen-Seins hinterlassen
möchte. Eine drohende Selbstzerstörung wird zum Selbstbehauptungsversuch
durch das Entstehen eines Dritten: des Gedichts.
Der Text „Der Brief“ verzichtet auf das charakteristische Verwandlungs-Motiv,
doch zeigt Mensch und Tier im Dialog bzw. in einer Art magischer
Kommunikation. Lautmalerei macht die Warngeräusche des Eichelhähers
vernehmbar. Mit diesen zugleich scheint eine Botschaft an die Welt der
Menschen, repräsentiert durch das lyrische Ich, zu ergehen. Ein Baum –
eine „alte Eiche“ – ist von Zerstörung bedroht bzw. ist bereits einem
gewaltsamen menschlichen Eingriff ausgesetzt. Schien der Vogel davor zu
warnen, so fliegt er dann davon – doch ließ dem ‚Ich‘ „eine seiner
Federn“, gleichsam als Trostzeichen und möglicherweise auch als Gabe und
Ermutigung zum Schreiben, zurück.
Das beunruhigende Geschehen rund um den drohenden Verlust eines
Naturraumes; eines Zufluchtsortes für Vögel wie den Eichelhäher, mündet
somit in ein neues Bündnis von Mensch und Natur bzw. lässt die
tröstliche Möglichkeit ahnen, dass es ein solches geben kann.
Der dem „Brief“ vorausgehende Text „Die Narbe“ wird geprägt durch die
Dialektik von ‚Vergessen‘ und ‚Erinnern‘; handelt er doch vom
Auftauchen alter, dem Gedächtnis vermeintlich abhanden gekommener
Erinnerungen; hier konkret: an eine Verletzung körperlicher Art in der
Kindheit. Die auch seelisch längst überwunden und unwichtig geglaubte
„Narbe“ zeigt nun neuerlich ihr Zugegensein an – und ermöglicht eine
Zwiesprache, die auf eine sanfte, nicht mehr schmerzende Art auf das
Damals verweist.
Weitere Gedichte reihen sich wieder ein in die Abfolge jener Texte,
die einer brüchig gewordenen Liebe nachsinnen. So dreht sich das in
Reim-Form verfasste Gedicht „Am Strand“ um eine Beziehung, die vergangen
ist, gleichwohl aber noch in der Schwebe zu sein scheint, insofern sie
den beiden beteiligten Menschen eine Entscheidung bzw. ein bestimmtes
Verhalten abfordert. Der Schwingungsmoment zwischen ‚Nicht mehr‘ und
‚Noch nicht‘ wird bezeichnet durch die löschende Handvoll Wasser, die
das ‚Ich‘ geschöpft hat – und die drei im Sand trocknenden Worte. Die
Intention zu bleiben wird dem ‚Du‘ zugesprochen; den Willen zu gehen
beansprucht das ‚Ich‘ für sich, womit sich die Entscheidungs-Waage
offenbar einem Ende der Beziehung zuneigt. Diese ‚Botschaft‘ nimmt der
Ufer-Sand, der, ebenso wie das Meer, in die Kommunikation mit einbezogen
ist, in sich auf.
Die Situation in dem Gedicht „Déjà-vu am Zweiertisch“ gemahnt an
Vergangenes, schon Erlebtes, das noch einmal als synästhetisches
‚Zugleich‘ einem Caféhaus-Aufenthalt zugehörig ist; sich auf den
Tastsinn, den Geruchssinn und das visuelle Wahrnehmen des ‚Ichs‘
überträgt. Dieses befindet sich in der charakteristischen Spanne
zwischen Noch-Hoffen und Gehen-Wollen. Das „Grünpflanzen-Arrangement“,
das den Blick versperrte, mag darauf verweisen, dass zunächst eine
Illusion über den Charakter der Beziehung bestand, deren Gefährdet-Sein
nicht wahrgenommen wurde.
Wie anderswo auch aber gehen aus dem Scheitern; dem Nichtgelingen
dieser Liebe Hoffnung und Aufbruchswillen hervor; kann es heißen: „Heut
klebe ich Flügel an meinen Tag / und breche auf“.
In dem lyrischen Text „Herbstfrühstück“ wird die Szenerie eines
Spätsommers bzw. Herbstes beschworen, der den eingetretenen
Entfremdungszustand eines Paares festhält. Dabei ist die
Grundkonstellation zugegen, dass Naturkräfte und -Phänomene in
Wechselwirkung mit Vorgängen im Bereich des (zwischen-) menschlichen
Lebens dargestellt werden. Erscheint die Jahreszeit in ihrem Wandel von
Hochsommer zu Herbst, so spielt auch der Wechsel der Tageszeit eine
Rolle, ja es scheint sich ein Umlauf dieser zu vollziehen.
Damit einhergehend mutet es an, als sei die Erinnerung an eine auch
sinnlich intensiv empfundene Zweierbeziehung verflogen oder verdrängt
worden, doch gleichwohl scheinen sich durch die erneute Begegnung mit
dem ‚Du‘ wieder Möglichkeiten aufzutun bzw. scheint sich Vertrautheit
einzustellen. Das Einander-fremd-geworden-Sein, das sich im Wechsel von
„heißen Sommernächten“ zu einem milden Spätsommer und dann zum Herbst
als Vorgang der Desillusionierung bzw. des nicht mehr wach und eingehend
auf das Gegenüber Ausgerichtet-Seins vollzog, behält jedoch das letzte
Wort.
Das Gedicht „Beim Sonntagsfrühstück“ rückt gleichfalls die auf den
ersten Blick unspektakulär anmutende Szene eines – wenngleich
sonntäglichen – Frühstücks in den Mittelpunkt. Sie weist jedoch über
sich hinaus, obwohl oder gerade weil im Zuge der sprachlichen Gestaltung
semantische Zusammenhänge stark verkürzt sind bzw. eine
Bedeutungsverschiebung stattfindet in dem Sinne, dass nicht eine Person,
die Kaffee trinkt, sondern dieser selbst „wortkarg“ erscheint bzw. dass
nicht die Tasse, sondern der Tag „leergetrunken“ wird.
Mit dieser Zusammenschau zeigt sich, dass jede sonntägliche
Festlichkeit und, sobald man trotz der verknappten Darstellung ein am
Frühstückstisch sitzendes Paar assoziiert, das Einander-Zugewendet-Sein
in Einsilbigkeit unterging und ein Tag voller Leere bevorsteht. Auch das
Verblassen-Lassen der Farben der Kleider ließe sich als nachlassende
Intensität einer Empfindung – oder Erinnerung? – deuten.
In der zweiten Strophe des trotz oder wegen seiner Kürze etwas
verrätselt anmutenden Textes wird die Sonne zum Synonym für eine Leben
und Liebe spendende Instanz, die das wortkarge sonntägliche Frühstück
hätte gelingen lassen können; ebenso wie den restlichen Tag und die Tage
danach, beginnend mit dem traditionell ungeliebten Montag.
In dem Kapitel „In schweren Zeiten“ sind existenzielle
Grundsituationen bzw. menschliche Verhaltensweisen, die der Gegenwart
zugehören, lyrisch gestaltet, meist als Szenarien des Scheiterns, doch
auch als Versuche der Selbstbehauptung. Ebenso wird wieder die Brücke
zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschlagen; prononciert in dem Text
„Schläferhaus“. Hier erfolgt eine Spurensuche, und zwar an einem der
sogenannten „Lost Places“, durch den sich der Blick zugleich auf die
NS-Zeit richtet. Das ‚Ich‘, das sich nicht unmittelbar artikuliert,
sondern eher hinter dem Mitgeteilten zurücktritt, versucht, sich vom
Gegenwarts-Standort aus das Vergangene zu vergegenwärtigen. Dieses
stellt sich über Gesehenes, von der Vorstellung Heraufbeschworenes, auch
akustisch Halluziniertes, her. Vergänglichkeit und Dauer scheinen in
einen Dialog zu treten; ein Gerücht verweist auf jenes Unheil, das sich
hier abgespielt hat, doch das zugleich das Neben- und Miteinander des
Alltäglichen wie Festlichen; Familiären, auch durch Kinder Gestalteten;
nicht zwangsläufig mit Schuld zu Verbindenden, einbegriff.
Um die Themen „Frieden“ und „Krieg“ kreisen weitere Gedichte; ebenso
wie um das Weiterwirken des Vergangenen in der Gegenwart und um das
‚Zugleich‘ des eigentlich Unvereinbaren. Auch wird der Einbruch des
Absurden in eine vermeintliche Lebensnormalität thematisiert.
So zeichnet das Gedicht „Das nennt man wohl Frieden“ ein Weltgefüge
der Widersprüchlichkeit, ja Widersinnigkeit nach, in dem die Dinge ihre
gewohnten, tradierten und ‚guten‘ Zusammenhänge verloren haben.
Absonderlich mutet denn auch das Verhalten des „Wanderers“ angesichts
einer aus den Fugen geratenen Welt an. Das Groteske, das
sprachlich-metaphorisch zum Ausdruck gelangt, gehört zu seinem
Selbstbehauptungsversuch, da er, träte er allem Sich-Ereignenden mit
„Nüchternheit“ entgegen, den vor der Angst schützenden „Herzring“
verlöre. Das existenzielle Grundgefühl der Angst trifft zusammen mit dem
Bemühen, in Verhältnissen zu bestehen, die zu Desorientierung und zum
Schwund von Mitmenschlichkeit führen.
Das ‚Zugleich‘ unvereinbarer Gegebenheiten spricht auch das Gedicht
„Februar 2022 – Mitteldeutschland“ aus. Es entwirft ein Kontrastgefüge
von erwachendem Frühling und „Tod“; lässt an den zeitgeschichtlichen
Einbruch durch den Ukraine-Krieg denken, doch mag verallgemeinert auch
das zwiespältige Verhältnis von Vergänglichkeit und Glück im Augenblick
meinen, das im Menschen, der beides wahrzunehmen imstande ist,
zusammentrifft. Das Vermögen seiner bewussten Welt-Wahrnehmung erscheint
als Privileg gegenüber der unbewusst bleibenden Natur, denn: „Was ahnt
schon ein Gänseblümchen vom Glück?“
Mit dem Gedicht „Vogel Kasur“ ist ein poetischer Text entstanden, der
wieder durch die Sonett-Form und entsprechend durch Klang und Rhythmik
und das Gleichmaß der Reime, doch auch durch eine eindringliche
Bildsprache Intensität gewinnt. Dabei sind unterschiedliche
Vorstellungsbereiche zusammengefügt zu einer Aussage, die nach
Entschlüsselung verlangt. Das übergreifende Thema könnte abermals das
der vergangenen bzw. vergehenden Zeit sein, was zugleich die Frage
einschließt, was sich in dieser ereignet hat.
Im Anklang an andere Texte des „Schneevogel“-Bandes begibt sich ein
kollektives ‚Wir‘ auf eine Suche und stößt dabei auf Spuren der
Vergangenheit, die widersprüchliche, doch letztlich tragische Züge
aufweist und in ihren Auswirkungen in die Gegenwart hineinreicht.
Wird das Geschehen erneut mittels der Tier- (d.h. Vogel-) Metaphorik
umschrieben, so erscheint der Kasur als Vogel, der eine Gefahr
darstellt, doch dem auch Unrecht, ja Gewalt widerfahren ist. An ihm bzw.
durch ihn vollzieht sich Vergänglichkeit, denn sein „Helm“ und seine
„Farben“ scheinen verschwistert mit der „goldenen Uhr“, aus der ein
„Tag“ herausgebrochen wurde. Im Zuge der Suche wiederum wurden „nur
löchrige Stunden gefunden“ und von den großen Vögeln „[g]reisende
Flügel, ein Abdruck auf Sand nur“ – was das Dagewesen-Sein in seiner
Flüchtigkeit bezeichnen mag. Wenn es heißt: „zur Nacht wird das Meer
ihre Schläge verwehen“, so richtet sich die Vorstellung auf mögliche –
vergebliche – Flugversuche, d.h. Flügelschläge, der Kasure aus.
Das poetische Bild verbleibt im Meer-Strand-Bereich, aber ein
Bedeutungswechsel hat statt – und es scheint sich, verschwistert mit der
Vergänglichkeitsfrage, ein ‚Generationenthema‘ herauszukristallisieren.
Dabei wird den Kindern das Erbe der Eltern überantwortet oder besser:
aufgebürdet; gleichwohl müssen sie selbst ihren Weg finden.
Geschütztsein und zugleich Leichtigkeit wurden ihnen genommen, indem der
Kasur ihr „Federkleid“ vernichtet hat.
Auch in dem Gedicht „Verkleidungskiste“ ist das Ineinander der Zeiten
thematisiert; erfährt Vergangenes eine ‚Erweckung‘, und zwar durch ein
Kind, das gleichsam ein Erbe antritt. Rettendes, Gutes und
Bewahrenswertes scheinen überdauert zu haben in Staub und Moder. Es sind
dies „Engelsflügel“ und „Reste fedriger Kiele“; wobei letztere wieder
‚Schreiben‘, Poesie, assoziieren lassen; welche, ebenso wie die
„Engelsflügel“, Leichtigkeit verleiht – wogegen die „braunen Seiten“
vergangener Zeit“ an vergilbtes Papier ebenso wie an die Zeit, die vom
„braunen“ Ungeist erfüllt war, denken lassen.
Von Kriegs-Auswirkungen und damit zugleich von der Zerstörung von
Lebensmöglichkeiten handeln die Gedichte „Rückkehr“, „Kriegskinder“ und
„Leichenkleid eines Kindes“. So erweist sich das Nach-Hause-Kommen des
mutmaßlichen Kriegsheimkehrers als ein Fremd-geworden-Sein im ehemals
Vertrauten; ein Nicht-mehr-willkommen-Sein in dem, was einmal Heimat
war.
Wenn es in dem Text „Kriegskinder“ in der charakteristischen
Kombination von konkreter und abstrakter Sprachverwendung heißt: „An
leerer Brust / liegt dieser Frühling“, so lässt sich assoziieren, dass
sich der Frühling als solcher nicht entfalten kann, da er nicht mit
Leben bzw. Lebenswertem ‚genährt‘ wurde und, im übertragenen Sinne,
abzusterben, d.h. zu verhungern und zu verdursten droht. Im Fortgang des
Gedichts werden „Kain“ und „Abel“, das Brüderpaar des Alten Testaments,
beschworen. Sie verschmelzen zu einer einzigen, dystopisch wirkenden
Gestalt. Auch das vermeintliche Opfer – Abel – wird so zum Täter. Die
eigentlichen Opfer sind die Kinder, deren Leiden sich in „Schreie[n]“
niederschlägt. Wenn es heißt: „Begraben dort / das Puppenkleid“ so
verweist dies auf eine zerstörte, ‚getötete‘ Kindheit.
Erschütternd wirkt jenes in Sonettform verfasste Gedicht, das auf
eine Mutter Bezug nimmt, die ihr Kind sterben sah; die, dem engen Raum
des Kindergrabs kontrastierend, ein „Universum“ des Noch-Zugegenseins
des Kindes in der Erinnerung durchlebt, die Zwiesprache mit ihm
fortsetzt – um dann das Gestorben-Sein des Kindes um den Preis des
eigenen Abgestorben-Seins, des Fühllos-Werdens, zu akzeptieren.
Mit dem Gedicht „Aber morgen“ wird ein Kontrapunkt zum vorigen Text
gesetzt; wird die Situation des eingetretenen Friedens herbeibeschworen.
Es ist nicht das ‚Vertrieben-Sein‘ aus dem Leben, aus der Zeit, die
vernichtet wurde, thematisiert, sondern ein in Aussicht gestelltes
‚Bleiben‘, eine wahr werdende Zukunft; heißt es doch in der Anrede an
ein Kind: „flechte ich Zukunft in deine Locken / such einen Rastplatz,
find uns eine Bleibe / unter dem löchrigen Mantel des Friedens“.
Damit zugleich erscheint die Perspektive der zurückgewonnenen Zeit;
einer solchen des Heilens und Schmerz-Stillens; der wieder von
Vormaligem („dornigen Ranken“) ablösbaren Träume; des „mit lockenden
Worten“ zu „zähmenden“ Tags. Wenn gleichnishaft vom „Klatschmohn“-Säen
„in unsere Herzen“ die Rede ist, teilt sich die Zuversicht mit, dass
Leid überwunden werden kann und wieder Blühendes, Lebendiges, in den
Herzen der Menschen zugegen sein wird.
Das Kapitel „Wirklichkeit am Rande“ widmet sich in vertiefter Weise
dem Thema ‚Tod‘. Besonders bei „Memento mori“ handelt es sich um ein
starkes, eindringliches Gedicht, für das wieder die Sonettform mit
festem Reimschema bestimmend ist. Inhaltlich scheint eine
‚Bedeutungsballung‘ gegeben, indem ein Motiv des Barock gestaltet ist,
das mit Märchen-Versatzstücken bzw. Symbolen, die ganze
Vorstellungswelten heraufbeschwören, variiert wurde und damit zu spielen
scheint. Eine Beschwörungsformel sucht sich gegen Vergänglichkeit,
Zerstörung, die in ein ‚Verschmelzungsbild‘ von Mensch und Tier gebannt
wurde, und den Tod zu behaupten, doch gleichwohl wirkt der – auch „List“
heraufbeschwörende, ebenso wie das „Spiegel“-Motiv variierende – Zauber
nicht.
Die Aussage wird wieder in einer Art ‚Dreischritt‘ von These,
Antithese und Synthese getroffen. Spricht die erste Strophe einen
Anspruch der Selbstüberhebung aus; den, „des Lebens Ende abzuwenden“, so
ist in der zweiten das ‘Wie‘ dieses Versuchs angezeigt; eben als eine
Art Beschwörung, ehe das Scheitern; das unabwendbare Ende, metaphorisch
umschrieben ist; am eindringlichsten in der letzten Strophe, wo es
heißt: „Im Feuerschein daneben / zeigt ein zerschlagener Spiegelschild /
ein menschenleeres Spiegelbild“.
Die beiden Texte „Hoffnung“ und „Diagnose“ behandeln das Todes-Thema wieder konkreter.
Bei dem Gedicht „Hoffnung“ lässt sich an eine Operation denken, die
einem Schwerkranken oder -Verletzten gilt, der sich gleichwohl in dem
charakteristischen Zustand der Unentschiedenheit, hier: zwischen Leben
und Tod, befindet; der erleiden muss, dass „[s]chwere Worte“ einer wohl
unheilvollen Diagnose bzw. Prognose „auf die Bettdecke genagelt“ werden,
wobei sich ein Quentchen Hoffnung geltend macht, versinnbildlicht durch
ein „unsichtbar […] / an die weiße Wand“ geschriebenes Wort.
Das Gedicht „Diagnose“, in dem ein Reimschema verwendet ist, handelt
wieder von der Zeit, die hier als bedrohte, ja zu Ende gehende
Lebenszeit erkennbar wird. Es ist von den Dingen her die Dramatik des
Vorgangs beschrieben, gleichsam als Gier des Lebensmoments, der sich um
Stunden, Tage… verlängern will. Es behält aber der Tod das letzte Wort;
er „tätowiert / mit leuchtenden Lettern“.
Existenzielle Grund- bzw. Grenzsituationen sind auch in einer Reihe
von Porträts zugegen, so in dem Text „Grenzgänger“. Dieses Gedicht
bezeichnet die fließenden Grenzen zwischen ‚Wahnsinn‘ und ‚Normalität‘
bzw. weist das eine als dem anderen zugehörig aus. Es wird eine
Situation des Aus-der-Balance-Geratens nachgezeichnet; dieses kann
jederzeit aus dem vermeintlichen Gleichmaß des Gewohnten hervorgehen.
Spielt in dem Gedicht der Mond eine Rolle, und zwar die eines
lachenden Zuschauers, so war der Himmelskörper bereits in dem Text
„Blutmond“ zugegen.
Es wird dort auf ein Naturereignis Bezug genommen, und zwar auf jenen
Zustand, wenn der Mond sich im Kernschatten der Erde befindet.
Gleichwohl weist das Phänomen in der lyrischen Gestaltung über sich
hinaus. Der Mond, der ebenso konkret wie doch auch symbolhaft erscheint,
wird herbeibeschworen in einer Art Schauspiel, das Zuschauer braucht.
Diese finden sich denn auch ein – und damit tut sich ein Kontrastgefüge
auf zwischen ihnen, die „wartend / ihre Begeisterung“ zelebrieren bzw.
den Mond preisen – und dem Gegenstand dieses Preisens, der „berechenbar
und kalt / durch tiefstes Dunkel zieht.“ Nachdem sich der Auf- und
Abgang des verschatteten Himmelskörpers vollzogen hat, halten die
Zuschauer „[i]n der Hand einen Fetzen / vom Rot seiner Robe“ – womit
womöglich die Anbetung des Ungewöhnlichen, ja Sensationellen, an dem
Viele teilhaben wollen, thematisiert ist. Denkbar wäre etwa der
festliche Auftritt eines Prominenten, bei dem sich ein Stück seiner Aura
erhaschen lässt. Vom Stilistischen her ist wieder von einer
Bedeutungserweiterung auszugehen; wird der Mond doch personifiziert;
sein Auftritt entsprechend inszeniert.
Ein weiteres Thema des benannten Kapitels ist offensichtlich die
menschliche Gleichgültigkeit angesichts des Leids anderer; es mag
materieller wie psychischer Art sein, das als „Wirklichkeit am Rande“
wahrgenommen wird von Saturierten und Ich-Bezogenen, die das
vielzitierte ‚Wegschauen‘ praktizieren
Bei dem Text „Schaukler“ handelt es sich um die lyrische Gestaltung
eines Vorgangs der Selbstüberhebung; vielleicht um eine Allegorie für
das sprichwörtliche: „Sein Glück Herausfordern“? Ein Aufstieg, der zum
einen als solcher konkret gestaltet wird, doch zum andern eine
erweiterte Bedeutung gewinnt; auf das Streben nach Erfolg, Ruhm,
Reichtum… verweisen mag, bildet das Zentrum des Gedichts. So, wie er
sich vollzieht, wirkt er nicht nur als Hybris, sondern führt in immer
größere Gefährdung – das Glück klammert sich „an fransige Seile“ – und
unweigerlich assoziiert man den bevorstehenden Absturz.
Das Gedicht „Dreiblättriges Kleeblatt“ weist in seiner Struktur
wieder eine partielle Reim-Form auf, während es inhaltlich um die
existenzielle Situation des Am-Glück-vorbeigelebt-Habens; des
gescheiterten oder auf ‚falsche‘ Inhalte ausgerichteten Lebens zu gehen
scheint; symbolisiert eben durch ein nicht vier-, sondern dreiblättriges
Kleeblatt.
Der Schauplatz des Textes – [h]inter grifflosen Türen“ lässt ein
‚Weggesperrtsein‘ eines oder mehrerer Menschen – vielleicht in einer
psychiatrischen Anstalt – assoziieren. Das „Kleeblatt“ symbolisiert
womöglich das Wegzeichen auf dem Weg zu einem sinnhaften, erfüllten und
damit auch glücklichen Leben, das durch Aufgabe einstiger Wünsche oder
das Haften an vordergründigen Lebenszielen verfehlt wurde oder doch als
verfehlt erscheint.
Der Band schließt ab mit einem Text, in dem nochmals das Thema ‚Tod‘
vorherrscht. Für „Letzter Waschtag“ wurde wieder die Sonettform gewählt.
Das Todes-Thema ist verknüpft mit dem Motiv des Kindes, das diesmal
einem Sterben; dem der Mutter, beiwohnt. Die Lakonik der Überschrift
steht im Kontrast zur Tragik und Dramatik des Sterbevorgangs.
Wieder spricht nicht das lyrische Ich als eines, das sich selbst
artikuliert, sondern als eine imaginäre dichterische Instanz, die den
Vorgang in Verse bringt. Das Lebensende erscheint als Ende des
Gewohnten, Vertrauten; eines Alltags, der auch Geborgenheit bedeutete;
nicht nur für die Sterbende, sondern ebenso für das anwesende Kind,
dessen weiteres Leben durch das Erfahrene nachhaltig beeinflusst werden
wird – was das Gedicht aber nicht mehr direkt aussagt.
Renate M. Riehemann: „Schneevogel“
Gedichte, mit Grafiken von Steffen Büchner
Verlag der 9 Reiche, Berlin 2023
ISBN/EAN: 978-3-948999-15-5, 32 Seiten; 9 €