Lyrik Edition NEUN

Lyrik Edition NEUN

Donnerstag, 9. Dezember 2021

Besprechung von Gabriel Wolkenfelds "Sandoasen" bei "Signaturen"

 

Stefan Hölscher


Gabriel Wolkenfeld: Sandoasen. Gedichte – Israelisches Album. 
Berlin (Verlag der 9 Reiche – Hg. Steffen Marciniak) 2021. 32 Seiten. 9,00 Euro.

Das Flirren der Oasen

Rezension von Stefan Hölscher zu G. Wolkenfeld: Sandoasen 

Zwei Jahre ist es her, dass ich Tel Aviv und Jerusalem besucht habe, zwei Orte, die tiefe Spuren in mir hinterlassen und solgleich das Verlangen geweckt haben, mehr von dem faszinierenden Land Israel kennenzulernen, für dessen Besuch uns damals nicht mehr als zwei Wochen blieben. Andere Orte, andere Land- und Küstenstriche, andere Momente israelischer Kultur zu erfahren: dazu bot sich jetzt ganz unerwartet eine weitere Gelegenheit. Und ganz pandemiekonform bot sie sich so, dass ich zugleich zu Hause sitzen bleiben und poetisch-virtuell auf Reise durch das Land gehen konnte. Eine Reise, die, obwohl kürzer als die erste, dieses Mal sogar durch ganz verschiedene Orte führte: Jerusalem und Tel Aviv waren erneut dabei, aber auch Java, Petach Tikwa, Bethlehem, Caesarea, Akkon, Tiberias, Haifa, Afula, Netanya und andere Orte mehr. Orte, durch die uns Gabriel Wolkenfeld in den Gedichten seines „Israelischen Albums“ „Sandoasen“ führt, das in der von Steffen Marciniak herausgegebenen Reihe „Lyrik Edition NEUN“ erschienen ist.

Nicht nur, weil das Bändchen mit gerade mal 30 Seiten vom Umfang sehr dünn ist, und nicht nur, weil die prosanahen Gedichte darin einen weich fließenden Duktus aufweisen, sondern auch weil Wolkenfelds Sprache in diesem Band Lesenden keinerlei Hürden in den Weg stellt, sind die „Sandoasen“ schnell zu durchreisen. Wolkenfeld bedient sich einer bildstarken, zugleich aber eingängigen lyrischen Rede, die auf Elemente wie das Zerlegen von Wort- und Satzmaterial, das Wechseln und In- und Gegeneinanderschieben verschiedener Sprachebenen, den Einbau anderer Textgattungspassagen in das lyrische Gebilde und andere Formen, die das Lesen zeitgenössischer Lyrik fordernd und sperrig machen können, komplett verzichtet. Man könnte Wolkenfelds Texten zum Vorwurf machen, dass sie 0,0% Avantgarde und viel zu viel poetische Herkömmlichkeit enthalten. Man könnte sie aber auch ganz ungehemmt genießen und sich mit ihnen auf eine poetische Reise begeben. Und das ist dann keine Israel-Saison-Katalog-Pauschalreise, sondern ein sensitives, auch durchaus melancholisch gefärbtes, in jedem Fall aber durch und durch persönlich geprägtes Erfahren israelischer Orte, die Wolkenfeld immer wieder aus ungewöhnlichen Perspektiven betrachtet, zum Beispiel gleich im Startgedicht der Sammlung:

Meist grußlos fegen die Mauersegler den Betenden die Kippot von den Köpfen. Verschwinden in fingerbreiten Sekundenhotels, aus Jerusalemstein ohne Applikationen, mit Insektensnackbar.
(aus „Jerusalem I“)

Oder hier:
Der Himmel auf den Bildern graut nach. Benebelt von Weihrauchschwaden taumelt eine kleine Sünderin zurück in diesem unheiligen Alltag. Die Müllabfuhr nimmt ihr die Vorfahrt. In einer Werkstatt unweit der Geburtskirche schnitzt ein arabischer Junge das hundertste Jesuskind.
(aus „Bethlehem“)

 

 
 
Wolkenfelds Wahrnehmen ist immer ein Verweben: ein Verweben von spirituell Aufgeladenem („die Betenden“ an der Klagemauer) und (mauer-)segelnd leicht Hinwegfegendem („fegen von den Köpfen“), von historisch Bedeutsamem („Jerusalemstein“) und situativ komisch Dazwi-schenfahrendem („Insektensnackbar“, „Müllabfuhr“), von evident erscheinend Realem („Himmel“) und schrägen Imitaten („Der Himmel auf den Bildern graut nach“; „das hundertste Jesuskind“)  und auch ein Verweben von Außen und Innen, von Natur und Ich bzw. Du, von Gegenwärtigem und Erinnertem:

Masada
Für den Hibiskus hafte ich nicht. Keine Blüte trägt die Feige. Hundertfach lässt der Mohn seinen Kopf hängen: Grün schaukeln die Kapseln im Wind. Fast schon ein Wunder, dass die Hälse, bindfadendünn, nicht einfach reißen. Den Scherenschnitten der Akazie sind unsere Träume verwandt, den Spuren der Salamander im Sand. Uns, noch am ehesten, ist die wilde Ödnis gemäß. Wir gehören nicht in Gärten voll üppiger Schönheit. Wir kommen aus der Wüste, wo verbrennt, was die Sonne begehrt, und verdunstet, wer seine Körpersäfte nicht bei sich zu halten vermag. Undenkbar von hier: der Wellengang der Levante, die Schneewehengesichter derJerusalemerinnen, die Akupunktur des Himmels. Meine Wirbel konkurrieren nicht mit den Säulen des Westpalastes. Neuland sind meine Gebete. Meine Volljährigkeit ist verjährt: Auf der Morgenseite meiner Erinnerung führt ein Junge in den Perlonstrümpfen seiner Mutter babylonische Tänze auf.

Was so entsteht, sind in jeder Bedeutung dieses Wortes intensiv sinnlich bewegte Impressionen: ein Flirren der Wahrnehmungsbilder ähnlich dem Flirren der aufgeheizten Luft in den Sandoasen. Zugleich entsteht aber auch quasi als Kontrast zum ruhelosen Flirren eine ordnende Struktur durch die von Wolkenfeld favorisierten kurzen und grammatisch in sich glasklaren Sätze. All dies begünstigt das schon erwähnte Phänomen des Schnelllesens und –reisens, zu dem die Oasengedichte einladen können.

Wert sind sie es jedoch sicherlich, auch ein zweites, drittes, weiteres Mal gelesen zu werden mit dem Auge des Entdeckers, das in Wolkenfelds Sandoasen auch beim wiederholten Hinschauen noch fündig werden wird, und sei es, dass es entdeckt, dass sich inmitten all der israelischen Ortsgedichte ein königlich-queeres Liebesgedicht eingeschlichen hat:

Drei Könige
Der Abend ist müde. Die Nacht 
erwacht, und zeigt sich im Sternenkleid.

Der Regen trommelt leise sein
Lied gegen die Scheibe. Ich schreibe dazu

mit meinem Zeigefinger ein paar Zeilen
auf deine Schulterblätter.
שתי יונים, אדם, הן עיניך.
מתוקות מדבש שפתיך.
האיבר שלך מלכותי כמו של המלך שלמה.1

Wir sind unterzuckert. Wir haben
des Zaunkönigs Traurigkeit eingeatmet.

Geliebt, bis die Lust versiegt. Wir haben gelacht,
bis der Körper erschlafft. Fake war die Welt,

bevor ich dich traf: Sorge dich nicht, ich
übergebe dich nicht dem Gevatter Schlaf.

1 Zwei Tauben, Adam, sind deine Augen.
Süß wie Honig sind deine Lippen.
Königlich ist dein Schwanz so wie der König Salomos.

 

 

Samstag, 4. Dezember 2021

Gabriel Wolkenfeld in der Berliner Volksbühne


 

Etwas ganz Besonderes erwartet uns und die hoffentlich vielen Leser: am heutigen Samstag, den 4.12.21. Unser Autor Gabriel Wolkenfeld liest aus seinem neuen Roman "Babylonisches Repertoire". Der Ort der Lesung ist ein ganz großer: die Berliner Volksbühne, und dort im Grünen Salon. Zu finden ist die Volksbühne am Rosenthaler Platz.

Den Gedichtband "Sandoasen" aus unserem Verlag hat er natürlich auf seinem Büchertisch. Und auch heute gesichtet im Buchladen Eisenherz, da sieht man beide Bücher auf dem vordersten Tisch im Eingangsbereich:

 

 
 

Mittwoch, 1. Dezember 2021

Lyrik-Edition NEUN auf der BuchBerlin 2021

BuchBerlin / Lyrik-Edition NEUN 

Nachbericht zur BuchBerlin von Abel Doering für die Pirckheimer-Gesellschaft.

Im September 2021 erschien mit dem zweiten Gedichtband von Anselm Retzlaff der vierte Band der im Jahr 2021 neu gegründeten Lyrik-Edition NEUN im Verlag der 9 Reiche.

Diese bei einer Premieren-Lesung am 9.9.2021 in der Lettrétage und bei der BuchBerlin 2021 vorgestellte und von Steffen Marciniak herausgegebene bibliophile Lyrikreihe mit Linolschnitten von Steffen Büchner hat 32 Seiten und ist eine auf 50 Verlagsexemplare nummerierte und (bei lebenden Autoren) signierte Ausgabe limitiert. Darüber hinaus gibt es im Besitz der Autoren eine unterschiedliche Anzahl weiterer Bücher, diese sind weiternummeriert und ebenfalls signiert. Diese Normalausgabe in fadengehefteter Broschur kostet 9 Euro. 

Ab 2022 wird zu jedem dieser Bände eine auf 9 Bücher limitierte, nummerierte und signierte Hardcover-Ausgabe erscheinen, dem ein signierter Original-Linolschnitt von Steffen Büchner beiliegen wird. Diese Ausgaben kosten 33 Euro und sind nur über den Verlag zu beziehen. 

Bislang sind neben dem oben genannten Titel erschienen: Albert H. Rausch - Tempelstufen, Gabriel Wolkenfeld - Sandoasen, Max Drushinin - Himmelraunen, und im November als Band 5 Thomas Luthardt - Märchenbrunnen. (ad)

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