Lyrik Edition NEUN

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Sonntag, 14. Januar 2024

Rezension zu Safak Saricicek auf "Lyrikkritik"

Eine neue Rezension ist auf der Online-Seite von Lyrikkritik erschienen.
Florian Birnmeyer rezensiert Wasserstätten von Safak Saricicek:
 
 
Webseite: Lyrikkritik
 

„Wasserstätten“ von Safak Sarıçiçek

Der Lyriker und Jurist Şafak Sarıçiçek hat seit 2017 bereits sechs Gedichtbände bei Lyrikverlagen wie dem Elif Verlag, der edition offenes feld und dem Verlag Brot und Kunst veröffentlicht, „Wasserstätten“ ist sein sechster Titel, der in der Lyrik Edition Neun erschienen ist. Das Buch ist eine unverhohlene Hymne an das Fließen des Wassers, aber auch Kritik an Kapitalismus und Gesellschaft fließen in seine Dichtung mit ein.

Die Bände der Lyrik Edition Neun enthalten stets einen Linolschnitt des Autors und zwei weitere Linolschnitte, die vom Dresdner Grafiker Steffen Büchner stammen. Das Werk enthält neben diesen optisch ansprechenden Kunstwerken 27 Gedichte, die bei Sarıçiçek mal kürzer, mal mittellang ausfallen. Langgedichte bilden die Ausnahme. Die Lyrik von „Wasserstätten“ folgt auch ohne Reim einem Rhythmus, verfügt über etwas Eingängiges, etwas, das den Leser und die Leserin in den Bann zieht und dazu führt, dass man nicht aufhören möchte, sich mit diesem schmalen Band zu befassen.

Safak Saricicek bei Lesung in Osterode 2023
Şafak Sarıçiçeks Gedichte bestechen durch ihre splitterhafte Zusammensetzung aus auf den ersten Blick ungewohnten Elementen, die in neue Verbindungen gebracht werden. Die Kombinationen der Wörter nehmen sich dabei aus wie mosaikhafte Versatzstücke, die sich jeweils zu einem kunstvollen Bild zusammenfügen lassen. Das müssen nicht immer Wörter und Substantive oder Verben sein, die da etwas bezeichnen und Bedeutungen miteinander verknüpfen, nein, das lyrische Ich verwendet auch Töne („plopp plopp!“) und Onomatopoetika sowie Eigennamen, die den Gedichten noch einmal etwas Eigenes verleihen.

Der erste Abschnitt (von dreien) steht unter dem Motto „Bei den Wasserstädten“, zu Beginn taucht das lyrische Ich in das titelgebende Element Wasser ein, mit dessen Dahinfließen es sich befasst:

Unter der Wasserhaut knistert und knackt 

Tier der Stille 

Es herrscht wenn die Stille rauscht 

Gedanken 

wortführende Gedanken 

treiben Autobahnen zur Blüte

Bei Sarıçiçek geht es aber nicht um eine rein ästhetisierte Kontemplation zum Thema Wasser, er macht sich auch kritische Gedanken zur Gesellschaft. In „Sortiment“ schreibt das lyrische Ich etwa über „vielzellig pluripotente / Pecunia“, „Verantwortung messen am Kontostand“ oder „kannibalische Westenträger“.
Die in Sarıçiçeks Lyrik immer wiederkehrenden Verbindungen lassen ob ihrer Ungewöhnlichkeit aufhorchen und wenn man auch nicht so weit gehen möchte, von Oxymora zu sprechen, so muten sie doch mitunter surreal und zugleich äußerst kunstvoll an, ja mitunter sogar hinreißend, wenn zum Beispiel das lyrisch Ich im Gedicht „Wasserstädten“ schreibt:

Fäden ziehen vom Abgasgeheule 

und von Hochhäusern 

Fäden delfingepflügt blaugischtig 


Murmeln spielen mit dem Weiher 


Auf Halbinseln einen Kirchturm bauen 

und siedeln ringsherum 

wie süße Bajonette

Das Assoziative, Momentane, die Impressionen dominieren in der Lyrik von „Wasserstätten“. Vereinzelte Anglizismen aus der heutigen Alltagswelt sollen dem Text Aktualität verleihen und der modernen Technik in den Texten Rechnung tragen („Welten entrollen sich in einer App“). Die Anglizismen, die neben lateinischen Wörtern, Onomatopoetika und Eigennamen stehen, wirken allerdings bisweilen etwas deplatziert.
Die Gedichte Şafak Sarıçiçeks könnten auch im Deutschunterricht behandelt werden, denn der Autor könnte mit seinen zeitkritischen Texten auch junge Leute adressieren. Ein Beispiel hierfür stellt „Zu Fuß gehen“ dar:

schwierigste Angelegenheit am Tag 

Menschen begegnen 

schwer im Heuteschritt 

Grüßt man • grüßt nicht 

Wenn nicht • wohin der Blick 

 

Nach vorn • den Vögeln nach

Trägt Lächeln man 

tragen es zurück? 

Schmunzelt ohne Beschwer? 

Man.

Das „Man“ steht hier für die Gesellschaft, die mit dem lyrischen Ich kontrastiert, mit dem sich der Leser und die Leserin vergleichen oder identifizieren kann. Wem ist es nicht schon einmal passiert, dass man jemanden auf der Straße nicht grüßen wollte und doch musste, weil es ein Gebot der Höflichkeit war? Dabei bezeichnet das „man“ im Text immer zugleich Beobachter und Beobachteter selbst, Individuum und Teil einer sozialen Rolle, die reflektiert wird.

Ein Gedicht mit Lokalkolorit in dem Band ist „Osterode“: Darin geht es um die Stadt im Harz, wo „Monteure Waldarbeiter Holländer Dänen / am kakophonen Einsamkeitstisch“ hausieren und „harzen teeren giebeln erkern“. „Ein Bach rinnt die Schnurgrenze entlang / schnurrt weich / zwischen Industriescheinschwerfern und Steinbruchhalden“. Nur kurz darauf folgt ein Gedicht über einen „Ägäischen Hafen“. Offenkundig haben es dem Autor die vergessenen Orte angetan, die entweder in den Bergen oder am Wasser liegen müssen. Es sind die Wasser- und Windstätten, die Sarıçiçek faszinieren.

Das Kapitel „Fischfresser“ widmet sich ganz jenen vergessenen Menschen, die in der Gesellschaft oft zu kurz kommen. Sie möchte Sarıçiçek stärker ins Licht rücken. Da wären das Prasseln des Siedefetts, oder der Rotationsmitarbeiter, der sich durch seinen „schizophrene[n] Umriss“ auszeichnet und sich als Tintenfisch denkt. Da gibt es zudem den Verkäufer mit dem aufgesetzten Lächeln zwischen Kartons, Mindestlohn und Fisch, Teller und Remoulade, der am Ende in den Feierabend entlassen wird. Und zuletzt begegnen wir dem Spüler:

In Einöden überfluteter Betriebsböden 

stochert ein Kahn auf Arbeitsschuhen 

nach festem Grund 

 

vollbeladen mit zerfetzten Fischlaiben 

ganz oder teils geerntet ein Fleischfeld 

mit frisch gezapfter Diabetes

[…]

im Spülraum umgrenzt 

im Hausarrest in Innerlichkeit gegen 

und für das Diktat aus Kassen […]

Durch die Gedichte dieses Bandes über die Wasserstätten ziehen sich selbstverständlich Motive des Maritimen, des Meeres und Wassers, der Fische und Fischlaibe, die uns immer wieder in verschiedenen Aggregatzuständen, mal frisch, mal älter, über den lyrischen Weg laufen und so etwas wie einen roten Faden durch die ca. 30 Texte bilden. Tiere, Leib, das Körperliche – das ist für Sarıçiçek ein wichtiger Bestandteil seiner lyrischen Beobachtungen, das Sinnliche spielt in seiner Lyrik eine ebenso entscheidende Rolle wie ein Schizophrenes, das der Welt Entrückte:

Überläufer wechselwarm 

tänzelnder Fisch im Kittel 

Kitt so sehr Kitt 

kompartmentalisiert 

 

eifrig überlaufend 

zwischen Türen mollusk 

mein schizophrener Umriss 

 

hab mich als Tintenfisch gedacht 

als Tintenfisch 

camouflagier mich mit Umgebungsfarben […]

Alltägliche Beobachtungen werden in Sarıçiçeks Gedichte mit eingebunden, als verarbeite der Autor damit auch, was ihm tagtäglich widerfährt. Aber die Aktualität dieser Lyrik geht darüber hinaus und spiegelt sich in seinem Verfahren wider. Wir erleben in dieser Lyrik den Harz genauso wie Griechenland, seine Bewohner, die „einfachen Leute“ und die Dinge des Alltags, aber auch das Außergewöhnliche, das Entlegene, Vergessene und Entrückte, in einer splitterhaften Welt.
Manchmal fühlt man sich an den Impressionismus erinnert, an die Bilder eines Monat, Renoir oder Manet, die aus lauter Pinselstrichen und Punkten bestehen und sich aus einzelnen Eindrücken zusammensetzen. Da wir heute wieder am Beginn eines Jahrhunderts stehen, das von Krisen gebeutelt zu sein scheint, passt diese etwas fragmentierte und doch durchkomponierte Lyrik gut zur aktuellen Gefühlslage. Doch während im Impressionismus sich die einzelnen Punkte zu einem stimmungsvollen größeren Ganzen zusammensetzen, bleiben die visuellen und mentalen Eindrücke in diesem Band fragmenthaft, bilden Inseln von Imaginationen, nur verbunden durch die Bezüge zwischen den Gedichten des Lyrikbandes.

Florian Birnmeyer


 

 

 

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