Verlag der Neun Reiche — Lyrik Edition NEUN — Lyrik — Prosa — Anthologie

Lyrik Edition NEUN — Literatur im Quadrat / Lyrik — Prosa — Anthologie
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Donnerstag, 11. April 2024

Ankündigung zum 6. Hanns-Meinke-Preis am 25.5.2024

 
Der Termin für die Preisverleihung steht: am 25.Mai 2024

Laudator ist Patrick Hattenberg (Preisträger von 2022)
Moderation: Steffen Marciniak
Musik: Frederik Durczok (Cello)

 

Dienstag, 16. Januar 2024

Rezension zu Gabriel Wolkenfelds "Nebelatlas" von Klaus Anders auf "Lyrikkritik"

 
Rezension von Klaus Anders auf: 


Tartarin mit Stöpseln im Ohr

– Notizen zu Gabriel Wolkenfelds Gedichtband Nebelatlas (Ukrainisches Album) –
Dezember 2022, zehn Monate nach Putins „Blitzkrieg“ gegen die Ukraine, erschien im Verlag der 9 Reiche ein Band mit 25 Gedichten von Gabriel Wolkenfeld. “Mein Band ‚Nebelatlas (Ukrainisches Album)‘ mit 25 Gedichten zu Orten in der Ukraine – Begegnungen mit Land und Leuten, alltäglichen Beobachtungen, Ergebnis meiner jahrelangen Beschäftigung mit ukrainischen Künstlern und Künstlerinnen und Autoren und Autorinnen, Erinnerungen an meine Zeit in der Ukraine…“ schreibt der Autor auf seiner Website. Ein knappes Jahr später bekam ich diesen Band, der mich schon beim ersten Hineinlesen fesselte. Die Faszination hat auch nach dem vierten Lesen nicht nachgelassen.

Die im Zank entzweiten werden sich nicht mehr
vertragen, aber vielleicht einigen sie sich darauf,
dass sie eine Mutter haben.


Damit ist am Ende des ersten Gedichts (Kyjiw I) eine Hoffnung ausgedrückt. Ob sie realistisch ist? Vielleicht in fernerer Zeit mit einem anderen Russland und einer weiterhin freien Ukraine. In den folgenden Texten wird diese Hoffnung nicht mehr aufgegriffen, der Autor verkneift sich den Blick in die Zukunft.

An den Ständen auf dem Andreassteg werden
T-Shirts angeboten, mit Dill oder Dreizack bedruckt.
Besonders populär: ПТН ПНХ


(aus: Kyjiw II; Anmerkung des Rezensenten: ПТН ПНХ heißt übersetzt: “Putin, verpiss dich!“)

*

Etliche der Gedichte bestehen aus einer Abfolge von Bildern, Situationen, Reflexionen, die jeweils für sich stehen, nicht durch ein chronologisch oder logisch kittendes Narrativ verbunden sind. Dazwischen weißer Raum, Leere. Die Sprache knapp.

Sie mit der DNA einer Wundertüte, mir
war, als sprächen sie im Windschatten der
Armenischen Kathedrale das Schma Jisrael.
Chamäleon unter den Städten, Raufaserseele,
europäisches Fabrikat, Folklore als Zitat.
Blasse Dame, grüner Schnabel.

 
(aus: Lwiw II)

Lwiw, auch Lemberg geheißen, hatte 1931 eine ethnisch gemischte Bevölkerung, die zu 50% polnisch und zu 32% jüdisch war. Dazu kamen 16% Ukrainer und in geringer Anzahl Deutsche, Armenier u.a. Russen lebten damals dort nur 0,2%. Nach der Besetzung durch Nazideutschland, dem Krieg und der Übernahme durch die Sowjetunion lebten 1959 in Lwiw noch 4 % Polen und 6% Juden, jedoch 60% Ukrainer und 27% Russen. „Bevölkerungsaustausch“, von den Nazis begonnen, von der Sowjetunion vollendet. 2001 lag der Anteil der Juden nur noch bei 0,3 %, der der Polen bei 0,9%.

*
Die uralte Stadt Jalta, von der die Mutter Kyjiw im ersten Gedicht augenzwinkernd sagt: mein Mädchen Jalta, die Stadt, die mitsamt der Krim 2014 von Russland annektiert, „heim ins Reich“ geholt wurde, weil sie nach Putins Worten russisch sei, wurde vor etwa 2600 Jahren von Griechen gegründet, fiel später u.a. an Byzanz, an Genua, an das Osmanischen Reich und – für weniger als ein Zehntel der Dauer ihrer Geschichte – an Russland.

Strand, der nicht Strand sein darf. Das Gebirge den
Göttern entwendet, Wolken in Umbra, Pinien,
kobaltblaue Zypressen, Palmen.
(…)
Tartarin mit Stöpseln im Ohr. Sagt, sie
wolle nichts von wissen.
Von Rentnern okkupierte Jahrzehnte, Badende ohne Untertitel. Gesagt wird nur, was gedruckt zum Nachsprechen vorliegt.
(…)
Fürchten muss man sich von den Übergriffen der
eigenen Geschichte. Die Herren Zaren mit ihrer
Vorliebe fürs Haben, Großmannsmut der kleinen
Geister.
Halte dich an die Marktweiber. Die tragen
Gold im Mund.

 
(aus: Jalta)

*
Knappheit der Sprache beflügelt meine Fantasie. Mir war oft im Nachklang des Lesens, als hätte ich eine zeitlich und räumlich ausladende Darstellung gesehen, lange Einstellungen mit teils verlangsamter Bewegung, die mit abrupten Schnitten enden und einer neuen Bildkonstellation beginnen.
*
Männer in Fledermausgarderobe fassen sich unter.
Frauen aus Seide und Leinen verteilen, mit
aufgemalten Gesichtern, Glückwünsche.
Die Braut? Verschwindet unter dem Schleier,
der ihr zur Heimat wird. Der Bräutigam?
Tanzt ausgelassen in seinem Totenkleid:
babylonisches Repertoire.

 
(aus: ‚Odessa II‘: eine jüdische Hochzeit)

Das von der Braut für den Bräutigam hergestellte Totenhemd bei der Hochzeit zu tragen, unter der Oberbekleidung, ist ein Brauch, der sowohl im orthodoxen Judentum als auch im Christentum über lange Zeit in manchen Regionen üblich war.

*

Anspielungen in den Gedichten zahlreich. Einigen konnte ich auf die Schliche kommen, andere blieben mir verschlossen oder ich konnte sie nicht zuordnen. Aber ist das so wichtig? Muss man alles „verstehen“? Ist die Dunkelheit eines Gedichts oder von Versen eines Gedichts nicht erst einmal hinzunehmen, in sie hineinzulauschen, anstatt sie in einem übergriffigen „Aufklärungs“impuls zu „entschleiern“ – was doch mitunter nichts anderes bedeutet, als dass dem Gedicht eine bestimmte Sicht übergestülpt wird und damit eine Beschränkung? Werden nicht manchmal sogar Verse, die auf den ersten Blick ganz klar erscheinen, bei längerer Be- trachtung immer dunkler, fremder, unzugänglicher? Der österreichische Psychiater Christian Scharfetter (1936 – 2012) empfahl einem jungen Assistenzarzt für den Umgang mit unzugänglichen Patienten, dass Zurückhaltung angesagt sei. Nicht im Verstehen-Wollen des Patienten liege der Schlüssel, sondern im gemeinsamen Erleben des Befremdlichen, wozu eine gewisse eigene Selbstentfremdung nötig sei. Erst dann könne – gemäss jenem alten griechischen Satz – Gleiches durch Gleiches erkannt werden, und sei es nur in wenigen Punkten Vergleichbares.

*

Der Band schließt mit Huldigungen an die drei „gealterten Empfangsdamen“ eines Studenwohnheims in Sumy. Die erste trägt (Zufall?) den Namen einer us-amerikanischen Dragqueen: Jekaterina Petriwna.

Mäusekönigin aus einer Zeit vor den Revolutionen,
Patronin der Pädagogen, am Stadtrand von
Sumy steht dein Domizil, Kaleidoskop aus
Kakerlaken, Sepiafassade, rostbrauner Rhabarber.


Dann Lidija Mykolajiwna:

Das Luftholen einer Nachtigall zwischen
zwei Tönen, der Flügelschlag eines Falters,
solcher Art sind deine Gesten.
Nur wenige Frauen wissen so subtil
Katastrophen auszulösen.
Ein Lächeln, erinnerst du dich, unvorsichtig
hingeworfen, der junge Mann lief in die Kutsche.
(…)

Du sitzt einfach nur da, kämmst dir das Haar.
Du weißt, wie es ist, einmal schön
gewesen zu sein.


Und zuletzt Sofija Romaniwna:

Rotflammendes Haar, Goldzahn, liebste Baba Jaga,
ohne deine Blitze kein Beben, dein Lachen
nie ohne Donner, stürzt die Welt ins Chaos.
Augen aus Asche, eine Stimme, als träfen sich
Stiefel und Kiesel. Wenn ich mich mal verspäte,
verwandle mich nicht in einen Hahn…


*

Ebenso wichtig wie das Gesagte und Dargestellte ist das Nicht-Gesagte, das Unsichtbare, das immerzu im Raum steht: Der Frieden ist nur eine flüchtige Phase zwischen mörderischen Ereignissen. Dem letzten zurückliegenden Krieg folgte der jetzige, dem vergangenen Pogrom wird das künftige folgen.
Viele der in dem Band genannten Städte wiesen früher einen hohen Anteil von Juden in der Bevölkerung aus. Lwiw, Poltawa, Iwano-Frankiwsk, Kamjanez-Podilskyj, Hluchiw: In der Vergangenheit Pogrome und Massaker, wohin man schaut. Die Vernichtung der mittelosteuropäisch-jiddischen Sprachwelt. Hierüber schweigt der Autor weitgehend, schreibt über das, was er, als er dort war vor einigen Jahren war, erlebte und beobachtete, öfter deutet er das Vergangene an.

Karpatenspross im Vorgebirge, galizische Schöpfung.
Erzogen nach Vorbild der österreichischen Monarchie,
Ziegeldächer in Rostfarbe, Kirchen und Kathedralen.
Ukrainisch verköstigt, köstliches jiddisches
Wort, sowjetische Norm.
Du bist der Beweis, dass ein Pass nichts ist
gegen die Raublust der Diktatoren, Buchstaben,
Zahlen, geschrieben mit Asche auf Asche.

 
(aus: Iwano-Frankiwsk)

*

Nur zuweilen tritt der gegenwärtige Krieg voll ins Licht:

Beidseitig gelähmt sind die Träume, abgeschnitten
die Fluchtwege. Der Tod kommt per Anhalter. Von
den Sevanchuks nimmt er die jüngste Tochter mit
und die Alte, die vorgestern noch am Kiosk stand.
In unserem Haus halten alle Stellung: Oma bindet
mit dem Kleinen Schleifen in Tarnfarben um die
Schlaufen des Maschendrahtzauns.
Wir mischen, wenn Sascha schläft, Explosives
in Flaschen. An den Schrank darf er nicht ran. Er weiß:
Dort sind die Geschenke für die Befreier.


(aus: Kriegstagebuch II)

*

Das Gedicht ‚Tscherniwizi II‘ ist der 18-jährig in einem Arbeitslager der SS an Fleckfieber verstorbenen jüdischen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger gewidmet:

In tiefster Finsternis erfand sie Farben.
Sie nähte sich ein dünnes Kleid aus Spinngeweb,
Moos und Farnen. Den kurzen Weg nahm sie sich zum
Geliebten und an den Freund schrieb sie: Geh mir
nicht nach, mein Gehen ist Vergehen.


*

Bemerkenswert an den Texten dieses Bandes finde ich ihre Diskretion. In einer Zeit, in der es alltäglich geworden ist, von der eigenen Herkunft zu schreiben, hält der Dichter sich zurück. Er plaudert, klagt und hadert nicht, reißt sich die Brust nicht auf, wirft nicht mit zeitgeistgesättigten Stichworten um sich und schafft so, mittels der sehr eigenen Sprachtracht und Musik der Gedichte, eine Distanz. Erst solche Distanz „trifft ins Herz“, führt (für mich – andere mögen es anders wahrnehmen) zu der Nähe, die das vermeintlich Unmittelbare einer Aussage, die sich um Stil, Form und dgl. angeblich nicht kümmert und der es nur um „Inhalt“, um Authentizität geht, im Gedicht letztlich nicht erreichen kann.
*
In ‚Babyn Jar‘ betrachten wir eine Sonntagsidylle: Sommernachmittag bei Picknick und Grill nahe der Schlucht. Nur ein Halbsatz deutet an, was hier geschah, dass Ende September 1941 in dieser Schlucht bei Kyiv innerhalb von 48 Stunden über 33.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder hingemetzelt wurden: Er weiß nichts von Juden…
 
Es ist hier nicht nur die oft beklagte Erinnerungslosigkeit späterer Generationen. Im Gegenteil: diejenigen, die den Krieg erlebten, verdängen und vergessen ihn, kaum vorbei, trotz aller Gedenkfeiern und Mahnungen geradezu leidenschaftlich. Ich denke zurück an die 50er und frühen 60er Jahre: Trotz des geräuschvollen Wiederaufbaus hörte man das Gras wachsen und war stets in Angst vor einem nahe bevorstehenden 3. Weltkrieg, gleichzeitig aber verhielten sich die Leute (zumindest außerhalb der Familien), als hätte es die Nazi-Diktatur und den Krieg nicht gegeben. Mich erstaunt und erinnert die Selbstverständlichkeit, mit der das nachwachsende Leben die Höllen der Vergangenheit überwuchert, an den Satz Kafkas über den Panther am Schluss der Erzählung ‚Ein Hungerkünstler‘: „Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht einmal die Freiheit schien er zu vermissen; dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiß schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, dass es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten.“

Ein Junge verkauft aus seinem Wagen heraus
Coffee-To-Go. Die Pilger schickt er in keine
Richtung.
Er weiß nichts von Juden, weiß nicht, dass die
Stadt ihre Toten eingemeindet hat.
Aus den Gräben dröhnt Pop. Familienväter
stehen am Grill, wenden, sobald es schön
knusprig ist, das Fleisch.
Ihre Söhne jagen Bällen hinterher. All ihre
Kraft legen sie in den Schuss.


Einige Jahrzehnte zuvor sagte die Zeugin Dina Pronitschewa aus: „Eine nackte Mutter verbrachte ihre letzten Augenblicke damit, ihrem Säugling die Brust zu geben. Als das Baby lebendig in die Schlucht geworfen wurde, sprang sie hinterher.“
 
Klaus Anders

Nebelatlas. Ukrainisches Album. Gedichte von Gabriel Wolkenfeld, Gabriel, Verlag der 9 Reiche, Berlin 2022

 

 

 

Sonntag, 14. Januar 2024

Rezension zu Safak Saricicek auf "Lyrikkritik"

Eine neue Rezension ist auf der Online-Seite von Lyrikkritik erschienen.
Florian Birnmeyer rezensiert Wasserstätten von Safak Saricicek:
 
 
Webseite: Lyrikkritik
 

„Wasserstätten“ von Safak Sarıçiçek

Der Lyriker und Jurist Şafak Sarıçiçek hat seit 2017 bereits sechs Gedichtbände bei Lyrikverlagen wie dem Elif Verlag, der edition offenes feld und dem Verlag Brot und Kunst veröffentlicht, „Wasserstätten“ ist sein sechster Titel, der in der Lyrik Edition Neun erschienen ist. Das Buch ist eine unverhohlene Hymne an das Fließen des Wassers, aber auch Kritik an Kapitalismus und Gesellschaft fließen in seine Dichtung mit ein.

Die Bände der Lyrik Edition Neun enthalten stets einen Linolschnitt des Autors und zwei weitere Linolschnitte, die vom Dresdner Grafiker Steffen Büchner stammen. Das Werk enthält neben diesen optisch ansprechenden Kunstwerken 27 Gedichte, die bei Sarıçiçek mal kürzer, mal mittellang ausfallen. Langgedichte bilden die Ausnahme. Die Lyrik von „Wasserstätten“ folgt auch ohne Reim einem Rhythmus, verfügt über etwas Eingängiges, etwas, das den Leser und die Leserin in den Bann zieht und dazu führt, dass man nicht aufhören möchte, sich mit diesem schmalen Band zu befassen.

Safak Saricicek bei Lesung in Osterode 2023
Şafak Sarıçiçeks Gedichte bestechen durch ihre splitterhafte Zusammensetzung aus auf den ersten Blick ungewohnten Elementen, die in neue Verbindungen gebracht werden. Die Kombinationen der Wörter nehmen sich dabei aus wie mosaikhafte Versatzstücke, die sich jeweils zu einem kunstvollen Bild zusammenfügen lassen. Das müssen nicht immer Wörter und Substantive oder Verben sein, die da etwas bezeichnen und Bedeutungen miteinander verknüpfen, nein, das lyrische Ich verwendet auch Töne („plopp plopp!“) und Onomatopoetika sowie Eigennamen, die den Gedichten noch einmal etwas Eigenes verleihen.

Der erste Abschnitt (von dreien) steht unter dem Motto „Bei den Wasserstädten“, zu Beginn taucht das lyrische Ich in das titelgebende Element Wasser ein, mit dessen Dahinfließen es sich befasst:

Unter der Wasserhaut knistert und knackt 

Tier der Stille 

Es herrscht wenn die Stille rauscht 

Gedanken 

wortführende Gedanken 

treiben Autobahnen zur Blüte

Bei Sarıçiçek geht es aber nicht um eine rein ästhetisierte Kontemplation zum Thema Wasser, er macht sich auch kritische Gedanken zur Gesellschaft. In „Sortiment“ schreibt das lyrische Ich etwa über „vielzellig pluripotente / Pecunia“, „Verantwortung messen am Kontostand“ oder „kannibalische Westenträger“.
Die in Sarıçiçeks Lyrik immer wiederkehrenden Verbindungen lassen ob ihrer Ungewöhnlichkeit aufhorchen und wenn man auch nicht so weit gehen möchte, von Oxymora zu sprechen, so muten sie doch mitunter surreal und zugleich äußerst kunstvoll an, ja mitunter sogar hinreißend, wenn zum Beispiel das lyrisch Ich im Gedicht „Wasserstädten“ schreibt:

Fäden ziehen vom Abgasgeheule 

und von Hochhäusern 

Fäden delfingepflügt blaugischtig 


Murmeln spielen mit dem Weiher 


Auf Halbinseln einen Kirchturm bauen 

und siedeln ringsherum 

wie süße Bajonette

Das Assoziative, Momentane, die Impressionen dominieren in der Lyrik von „Wasserstätten“. Vereinzelte Anglizismen aus der heutigen Alltagswelt sollen dem Text Aktualität verleihen und der modernen Technik in den Texten Rechnung tragen („Welten entrollen sich in einer App“). Die Anglizismen, die neben lateinischen Wörtern, Onomatopoetika und Eigennamen stehen, wirken allerdings bisweilen etwas deplatziert.
Die Gedichte Şafak Sarıçiçeks könnten auch im Deutschunterricht behandelt werden, denn der Autor könnte mit seinen zeitkritischen Texten auch junge Leute adressieren. Ein Beispiel hierfür stellt „Zu Fuß gehen“ dar:

schwierigste Angelegenheit am Tag 

Menschen begegnen 

schwer im Heuteschritt 

Grüßt man • grüßt nicht 

Wenn nicht • wohin der Blick 

 

Nach vorn • den Vögeln nach

Trägt Lächeln man 

tragen es zurück? 

Schmunzelt ohne Beschwer? 

Man.

Das „Man“ steht hier für die Gesellschaft, die mit dem lyrischen Ich kontrastiert, mit dem sich der Leser und die Leserin vergleichen oder identifizieren kann. Wem ist es nicht schon einmal passiert, dass man jemanden auf der Straße nicht grüßen wollte und doch musste, weil es ein Gebot der Höflichkeit war? Dabei bezeichnet das „man“ im Text immer zugleich Beobachter und Beobachteter selbst, Individuum und Teil einer sozialen Rolle, die reflektiert wird.

Ein Gedicht mit Lokalkolorit in dem Band ist „Osterode“: Darin geht es um die Stadt im Harz, wo „Monteure Waldarbeiter Holländer Dänen / am kakophonen Einsamkeitstisch“ hausieren und „harzen teeren giebeln erkern“. „Ein Bach rinnt die Schnurgrenze entlang / schnurrt weich / zwischen Industriescheinschwerfern und Steinbruchhalden“. Nur kurz darauf folgt ein Gedicht über einen „Ägäischen Hafen“. Offenkundig haben es dem Autor die vergessenen Orte angetan, die entweder in den Bergen oder am Wasser liegen müssen. Es sind die Wasser- und Windstätten, die Sarıçiçek faszinieren.

Das Kapitel „Fischfresser“ widmet sich ganz jenen vergessenen Menschen, die in der Gesellschaft oft zu kurz kommen. Sie möchte Sarıçiçek stärker ins Licht rücken. Da wären das Prasseln des Siedefetts, oder der Rotationsmitarbeiter, der sich durch seinen „schizophrene[n] Umriss“ auszeichnet und sich als Tintenfisch denkt. Da gibt es zudem den Verkäufer mit dem aufgesetzten Lächeln zwischen Kartons, Mindestlohn und Fisch, Teller und Remoulade, der am Ende in den Feierabend entlassen wird. Und zuletzt begegnen wir dem Spüler:

In Einöden überfluteter Betriebsböden 

stochert ein Kahn auf Arbeitsschuhen 

nach festem Grund 

 

vollbeladen mit zerfetzten Fischlaiben 

ganz oder teils geerntet ein Fleischfeld 

mit frisch gezapfter Diabetes

[…]

im Spülraum umgrenzt 

im Hausarrest in Innerlichkeit gegen 

und für das Diktat aus Kassen […]

Durch die Gedichte dieses Bandes über die Wasserstätten ziehen sich selbstverständlich Motive des Maritimen, des Meeres und Wassers, der Fische und Fischlaibe, die uns immer wieder in verschiedenen Aggregatzuständen, mal frisch, mal älter, über den lyrischen Weg laufen und so etwas wie einen roten Faden durch die ca. 30 Texte bilden. Tiere, Leib, das Körperliche – das ist für Sarıçiçek ein wichtiger Bestandteil seiner lyrischen Beobachtungen, das Sinnliche spielt in seiner Lyrik eine ebenso entscheidende Rolle wie ein Schizophrenes, das der Welt Entrückte:

Überläufer wechselwarm 

tänzelnder Fisch im Kittel 

Kitt so sehr Kitt 

kompartmentalisiert 

 

eifrig überlaufend 

zwischen Türen mollusk 

mein schizophrener Umriss 

 

hab mich als Tintenfisch gedacht 

als Tintenfisch 

camouflagier mich mit Umgebungsfarben […]

Alltägliche Beobachtungen werden in Sarıçiçeks Gedichte mit eingebunden, als verarbeite der Autor damit auch, was ihm tagtäglich widerfährt. Aber die Aktualität dieser Lyrik geht darüber hinaus und spiegelt sich in seinem Verfahren wider. Wir erleben in dieser Lyrik den Harz genauso wie Griechenland, seine Bewohner, die „einfachen Leute“ und die Dinge des Alltags, aber auch das Außergewöhnliche, das Entlegene, Vergessene und Entrückte, in einer splitterhaften Welt.
Manchmal fühlt man sich an den Impressionismus erinnert, an die Bilder eines Monat, Renoir oder Manet, die aus lauter Pinselstrichen und Punkten bestehen und sich aus einzelnen Eindrücken zusammensetzen. Da wir heute wieder am Beginn eines Jahrhunderts stehen, das von Krisen gebeutelt zu sein scheint, passt diese etwas fragmentierte und doch durchkomponierte Lyrik gut zur aktuellen Gefühlslage. Doch während im Impressionismus sich die einzelnen Punkte zu einem stimmungsvollen größeren Ganzen zusammensetzen, bleiben die visuellen und mentalen Eindrücke in diesem Band fragmenthaft, bilden Inseln von Imaginationen, nur verbunden durch die Bezüge zwischen den Gedichten des Lyrikbandes.

Florian Birnmeyer


 

 

 

Dienstag, 9. Januar 2024

Gespräch mit dem Schriftsteller Şafak Sarıçiçek

Poesie muss sich wieder lohnen: Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Şafak Sarıçiçek

Interview: Yelizaveta Landenberger, ND,
 
Frage:
 
Die Fischfresser-Zyklus-Gedichte in Ihrem neuen Lyrikband »Wasserstätten« gefallen mir besonders gut. Darin geht es um Massenproduktion von Fisch einerseits, Ausbeutung und Entfremdung der Arbeitenden, die mit dem Fisch hantieren, andererseits – wie Menschen in Gastronomieberufen gewissermaßen selbst zu Fisch werden. Aber wieso sind Wasser und Fische in Ihrer Lyrik so präsent?
 
Antwort S. Saricicek:
 
Die Wasserthematik zieht sich durch meine gesamte Lyrik. Fische können Verschiedenes symbolisieren: das Weibliche, das Kind, Verletzlichkeit, Unschuld, Naivität. Wasser hat dieses Verbindende und Fluide, es umgeht Hindernisse, findet seinen Weg. Gleichzeitig ist es das Verbindende im geografischen Kontext, bewegt sich zwischen Ländern, so wie ich. Und es gibt diese mystische Dimension: Wir können Wasser nicht richtig erfassen, gleichzeitig bestehen wir selbst zu einem erheblichen Teil daraus. Der Zyklus hat sich ergeben, weil ich selbst in der Gastronomie gearbeitet habe. Hier ist übrigens noch eine Brandnarbe davon an meinem Arm.

S. Saricicek, Foto: Yelizaveta Landenberger

Frage:
 
Finden Sie es frustrierend, dass das Lyriker-Dasein so schlecht bezahlt ist?
 
Antwort S. Saricicek:
 
Absolut. Wie wenig Lyrik wertgeschätzt wird. Oder allgemein: Dass schnell an der Kultur gespart wird, als ob sie Luxus wäre. Schriftsteller sind so wichtig, weil sie jenseits der Profit-Logik gesellschaftlichen Reichtum aufbewahren. Jeder Mensch hat das Potenzial, Lyrik zu rezipieren, aber man ist zu gehetzt. Deswegen beschäftigt sich hierzulande hauptsächlich eine akademisierte Bubble damit. Das muss nicht so sein: In der Türkei wird Lyrik mehr wertgeschätzt, da kann ein Bauer Gedichte von Ahmed Arif oder Nazim Hikmet vortragen, da hat Lyrik wirklich noch eine kollektive Funktion – auch vermeintlich schwierige Lyrik. Dass Lyrik in Deutschland so ein geringer Stellenwert zukommt, weist darauf hin, dass unsere Gesellschaft ins Konsumistische abrutscht. Die Lyrik, die immerhin noch breiter rezipiert wird, ist oft so trivial. Das hängt mit den Produktionsverhältnissen und der Aufmerksamkeitsökonomie unserer Gesellschaft zusammen. Und wenn Lyrik wertgeschätzt wird, dann auf technokratische Weise: Gedichtanalysen mit eindeutigen Deutungen. Damit bereitet man so vielen Generationen von Kindern Hass auf diese schöne Form – und man banalisiert sie.
 
 
Şafak Sarıçiçek (*1992 in Istanbul) ist ein in Heidelberg lebender deutschsprachiger Dichter mit Zaza-Wurzeln. Er studierte Jura in Heidelberg und Kopenhagen und absolviert aktuell sein Referendariat. Bislang veröffentlichte er sechs Lyrikbände. Zuletzt erschien im Herbst 2023 sein neuer Gedichtband »Wasserstätten«. 2023 erhielt er den Hanns-Meinke-Preis sowie ein Jahresstipendium für Literatur der Kunststiftung Baden-Württemberg.
 

Freitag, 28. Juli 2023

Umschlag zu Band 23 der Edition NEUN

 

Nun ist er fertig: der Umschlag für den neuen Band Wasserstätten des neuen Hanns-Meinke-Preisträgers für junge Lyrik, Şafak Sarıçiçek, in der Lyrik-Edition NEUN. Die Bandnummer für den 2023er Preisträger ist passenderweise die 23. 
 


Erscheinungsdatum wird der 9. September 2023 sein. Am 22.9. wird in Berlin die Preisträgerlesung für den Hanns-Meinke-Preis stattfinden, 19:30 Uhr im Lessinghaus Berlin.
Der Autor wird außerdem am 21.9. in Teltow eine Vorpremierenlesung.

Dienstag, 10. Mai 2022

Autoren beim 7. Griechisch-Deutschen Literaturfestival 2022

Am 12. Mai 2022 beginnt in Berlin das 7. Griechisch-Deutsche Literaturfestival.

Die Organisation des Berliner Prologs: Steffen Marciniak

3 Veranstaltungsabende wird es geben. Die ersten beiden, am 12. und 13. Mai 2022, finden im Lessinghaus im Nikolaiviertel, Nikolaikirchstr. 7, Berlin-Mitte am Alexanderplatz statt. 

Der 3. Abend, am Samstag, den 14. Mai 2022 widmet sich ganz den Hanns-Meinke- Preisträgern für junge Lyrik, die im Verlag der 9 Reiche daraufhin alle eine Buchveröffentlichung bekamen. Die Veranstaltung findet statt im Gutshaus Steglitz, Wrangelschlösschen, direkt neben dem Schloßparktheater, Schloßstr. 48. Es gibt ein Buffet.

Alle Veranstaltungen beginnen um 19:30 Uhr.

Hier nun aber der gesamte Überblick:

 

Teilnehmer:

12. Mai:   

Şafak Sarıçiçek, Renate Maria Riehemann, Martin A. Völker, Heidi Ramlow, Steffen Marciniak

13. Mai:

Ulrich Grasnick, Raoul Eisele, Mary Jo Fakitsa, Slavica Klimkowsky, Steffen Marciniak

14. Mai: 

Max Drushinin, Anselm Retzlaff, Gabriel Wolkenfeld, Patrick Hattenberg, David Yonan (Violine)







 



 


Montag, 7. März 2022

Ab 9.3.22 lieferbar: Patrick Hattenberg: Heimathaut

 
Die Normalausgabe von "Heimathaut" hat Patrick Hattenberg signiert und ab dem 9.3.2022 ist diese nummerierte und signierte Ausgabe lieferbar.

Patrick Hattenberg

Geb.1992 in Kiel. Kindheit auf dem Land in Schleswig-Holstein. Ab 2013 Studium der Psychologie in Kiel, Abschluss als Diplom-Psychologe. 2018 halbjährige Arbeit als Unternehmensberater in den USA. Seit 2019 Major der Reserve, als Truppenpsychologe im Deutschen Heer der Bundeswehr gegenwärtig im Einsatz in Litauen. — 

Die Arbeit als Psychologe inspirierte Patrick Hattenberg zur Lyrik. 2015 erschien sein erster Lyrikband, Hirnherbst, den er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Kevin Hattenberg verfasst hatte, im Sternenblick-Verlag, Berlin. Verschiedene Veröffentlichungen in Anthologien des Sternenblick-Verlags. Ab 2016 auch fotografische Arbeiten, 2018 Gewinner im Fotografiewettbewerb Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein und beim Fotografiewettbewerb #wirkönnenwasser.
2019 Veröffentlichung der ebenfalls zusammen mit seinem Bruder Kevin Hattenberg verfassten Kurzgeschichte Dioskuren — Durch Leid zu den Sternen. Per Aspera ad Astra. beim Verlag PalmArtPress, Berlin, in: Entführung in die Antike (Hg. S. Marciniak). Seit 2020 liegt ein weiterer künstlerischer Schwerpunkt auf der Kinderliteratur.

2022 erhielt er den Hanns-Meinke-Preis

Sonntag, 30. Januar 2022

Lyrik-Edition NEUN, Bände M.J. Fakitsa und P. Hattenberg

Noch sind die Bände 6 und 7 der Lyrik-Edition NEUN nicht fertig. Beide sollen aber noch im 1. Quartal 2022 erscheinen. Mit Band 6 präsentieren wir Erzählgedichte aus Griechenland.

Und die Cover sind schon vorzeigbar. Wie immer lugen aus den Umschlägen Ausschnitte aus den wunderbaren Linolschnitten der Autorenporträts:

 

Mary Jo Fakitsa: Nirwanakind
 ISBN:978-3-948999-06-3

 

Mary Jo Fakitsa

Geboren in Athen wuchs sie als Sohn in einer künstlerischen Umgebung auf. Ihr Vater war der in Griechenland prominente Sänger Vassilis Fakitsas, der u.a. an der Griechischen Oper in Athen von 1962-2004 als Bass in etlichen Opern auftrat.

Hier der link einer alten Aufnahme in youtube: 

Vater Vassilis Fakitsas, Bass: Old Man River, u.a. 

Als Kind spielte die Schauspielerin Melina Mercouri oft mit ihr. Sie lernte den bekannten Schriftsteller Jannis Ritsos kennen. Früh trat Mary Jo Fakitsa als Tenor in Solopartien und Chor der Griechischen Oper in Athen auf. Sie besuchte ein griechisches Konservatorium für Musik und komponierte elektronische Musik.

Hier ein link zu ihren Kompositionen: M.J. Fakitsa´s Kompositionen

Nach dem Tod des Vaters zog sie mit Mutter und Oma in die Apokoronas auf Kreta, Gebiet Chania, in das Wochenendhaus der Familie. Mary Jo Fakitsa lebte nun immer mehr in beiden Geschlechtern. Seit 2017 wohnt sie zum großen Teil auch in Berlin. Ihre ersten literarischen Veröffentlichungen, als Joey Fakitsas: Apokoronas: in Über das Kretische Meer (Hg. Radio Kreta / E. Engelmann), 2017, und als Maria Ioanna Fakitsa: Antinous am Nil in: Entführung in die Antike (Hg. S. Marciniak), Verlag PalmArtPress, 2019. Die in Deutsch verfassten Erzählgedichte Nirwanakind sind ihr Buchdebüt.


Patrick Hattenberg: Heimathaut
 ISBN:978-3-948999-07-0
          

Patrick Hattenberg

Geb.1992 in Kiel. Kindheit auf dem Land in Schleswig-Holstein. Ab 2013 Studium der Psychologie in Kiel, Abschluss als Diplom-Psychologe. 2018 halbjährige Arbeit als Unternehmensberater in den USA. Seit 2019 Major der Reserve, Truppenpsychologe im Deutschen Heer, Bundeswehr. — 

Die Arbeit als Psychologe inspirierte Patrick Hattenberg zur Lyrik. 2015 erschien sein erster Lyrikband, Hirnherbst, den er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Kevin Hattenberg verfasst hatte, im Sternenblick-Verlag, Berlin. Verschiedene Veröffentlichungen in Anthologien des Sternenblick-Verlags. Ab 2016 auch fotografische Arbeiten, 2018 Gewinner im Fotografiewettbewerb Stiftung Naturschutz Schleswig-Holstein und beim Fotografiewettbewerb #wirkönnenwasser.
2019 Veröffentlichung der ebenfalls zusammen mit seinem Bruder Kevin Hattenberg verfassten Kurzgeschichte Dioskuren — Durch Leid zu den Sternen. Per Aspera ad Astra. beim Verlag PalmArtPress, Berlin, in: Entführung in die Antike (Hg. S. Marciniak). Seit 2020 liegt ein weiterer künstlerischer Schwerpunkt auf der Kinderliteratur.

2022 erhielt er den Hanns-Meinke-Preis

Donnerstag, 9. Dezember 2021

Besprechung von Gabriel Wolkenfelds "Sandoasen" bei "Signaturen"

 

Stefan Hölscher


Gabriel Wolkenfeld: Sandoasen. Gedichte – Israelisches Album. 
Berlin (Verlag der 9 Reiche – Hg. Steffen Marciniak) 2021. 32 Seiten. 9,00 Euro.

Das Flirren der Oasen

Rezension von Stefan Hölscher zu G. Wolkenfeld: Sandoasen 

Zwei Jahre ist es her, dass ich Tel Aviv und Jerusalem besucht habe, zwei Orte, die tiefe Spuren in mir hinterlassen und solgleich das Verlangen geweckt haben, mehr von dem faszinierenden Land Israel kennenzulernen, für dessen Besuch uns damals nicht mehr als zwei Wochen blieben. Andere Orte, andere Land- und Küstenstriche, andere Momente israelischer Kultur zu erfahren: dazu bot sich jetzt ganz unerwartet eine weitere Gelegenheit. Und ganz pandemiekonform bot sie sich so, dass ich zugleich zu Hause sitzen bleiben und poetisch-virtuell auf Reise durch das Land gehen konnte. Eine Reise, die, obwohl kürzer als die erste, dieses Mal sogar durch ganz verschiedene Orte führte: Jerusalem und Tel Aviv waren erneut dabei, aber auch Java, Petach Tikwa, Bethlehem, Caesarea, Akkon, Tiberias, Haifa, Afula, Netanya und andere Orte mehr. Orte, durch die uns Gabriel Wolkenfeld in den Gedichten seines „Israelischen Albums“ „Sandoasen“ führt, das in der von Steffen Marciniak herausgegebenen Reihe „Lyrik Edition NEUN“ erschienen ist.

Nicht nur, weil das Bändchen mit gerade mal 30 Seiten vom Umfang sehr dünn ist, und nicht nur, weil die prosanahen Gedichte darin einen weich fließenden Duktus aufweisen, sondern auch weil Wolkenfelds Sprache in diesem Band Lesenden keinerlei Hürden in den Weg stellt, sind die „Sandoasen“ schnell zu durchreisen. Wolkenfeld bedient sich einer bildstarken, zugleich aber eingängigen lyrischen Rede, die auf Elemente wie das Zerlegen von Wort- und Satzmaterial, das Wechseln und In- und Gegeneinanderschieben verschiedener Sprachebenen, den Einbau anderer Textgattungspassagen in das lyrische Gebilde und andere Formen, die das Lesen zeitgenössischer Lyrik fordernd und sperrig machen können, komplett verzichtet. Man könnte Wolkenfelds Texten zum Vorwurf machen, dass sie 0,0% Avantgarde und viel zu viel poetische Herkömmlichkeit enthalten. Man könnte sie aber auch ganz ungehemmt genießen und sich mit ihnen auf eine poetische Reise begeben. Und das ist dann keine Israel-Saison-Katalog-Pauschalreise, sondern ein sensitives, auch durchaus melancholisch gefärbtes, in jedem Fall aber durch und durch persönlich geprägtes Erfahren israelischer Orte, die Wolkenfeld immer wieder aus ungewöhnlichen Perspektiven betrachtet, zum Beispiel gleich im Startgedicht der Sammlung:

Meist grußlos fegen die Mauersegler den Betenden die Kippot von den Köpfen. Verschwinden in fingerbreiten Sekundenhotels, aus Jerusalemstein ohne Applikationen, mit Insektensnackbar.
(aus „Jerusalem I“)

Oder hier:
Der Himmel auf den Bildern graut nach. Benebelt von Weihrauchschwaden taumelt eine kleine Sünderin zurück in diesem unheiligen Alltag. Die Müllabfuhr nimmt ihr die Vorfahrt. In einer Werkstatt unweit der Geburtskirche schnitzt ein arabischer Junge das hundertste Jesuskind.
(aus „Bethlehem“)

 

 
 
Wolkenfelds Wahrnehmen ist immer ein Verweben: ein Verweben von spirituell Aufgeladenem („die Betenden“ an der Klagemauer) und (mauer-)segelnd leicht Hinwegfegendem („fegen von den Köpfen“), von historisch Bedeutsamem („Jerusalemstein“) und situativ komisch Dazwi-schenfahrendem („Insektensnackbar“, „Müllabfuhr“), von evident erscheinend Realem („Himmel“) und schrägen Imitaten („Der Himmel auf den Bildern graut nach“; „das hundertste Jesuskind“)  und auch ein Verweben von Außen und Innen, von Natur und Ich bzw. Du, von Gegenwärtigem und Erinnertem:

Masada
 
Für den Hibiskus hafte ich nicht. Keine Blüte trägt die Feige. Hundertfach lässt der Mohn seinen Kopf hängen: Grün schaukeln die Kapseln im Wind. Fast schon ein Wunder, dass die Hälse, bindfadendünn, nicht einfach reißen. Den Scherenschnitten der Akazie sind unsere Träume verwandt, den Spuren der Salamander im Sand. Uns, noch am ehesten, ist die wilde Ödnis gemäß. Wir gehören nicht in Gärten voll üppiger Schönheit. Wir kommen aus der Wüste, wo verbrennt, was die Sonne begehrt, und verdunstet, wer seine Körpersäfte nicht bei sich zu halten vermag. Undenkbar von hier: der Wellengang der Levante, die Schneewehengesichter derJerusalemerinnen, die Akupunktur des Himmels. Meine Wirbel konkurrieren nicht mit den Säulen des Westpalastes. Neuland sind meine Gebete. Meine Volljährigkeit ist verjährt: Auf der Morgenseite meiner Erinnerung führt ein Junge in den Perlonstrümpfen seiner Mutter babylonische Tänze auf.

Was so entsteht, sind in jeder Bedeutung dieses Wortes intensiv sinnlich bewegte Impressionen: ein Flirren der Wahrnehmungsbilder ähnlich dem Flirren der aufgeheizten Luft in den Sandoasen. Zugleich entsteht aber auch quasi als Kontrast zum ruhelosen Flirren eine ordnende Struktur durch die von Wolkenfeld favorisierten kurzen und grammatisch in sich glasklaren Sätze. All dies begünstigt das schon erwähnte Phänomen des Schnelllesens und –reisens, zu dem die Oasengedichte einladen können.

Wert sind sie es jedoch sicherlich, auch ein zweites, drittes, weiteres Mal gelesen zu werden mit dem Auge des Entdeckers, das in Wolkenfelds Sandoasen auch beim wiederholten Hinschauen noch fündig werden wird, und sei es, dass es entdeckt, dass sich inmitten all der israelischen Ortsgedichte ein königlich-queeres Liebesgedicht eingeschlichen hat:

Drei Könige
 
Der Abend ist müde. Die Nacht
erwacht, und zeigt sich im Sternenkleid.

Der Regen trommelt leise sein
Lied gegen die Scheibe. Ich schreibe dazu

mit meinem Zeigefinger ein paar Zeilen
auf deine Schulterblätter.
שתי יונים, אדם, הן עיניך.
מתוקות מדבש שפתיך.
האיבר שלך מלכותי כמו של המלך שלמה.1

Wir sind unterzuckert. Wir haben
des Zaunkönigs Traurigkeit eingeatmet.

Geliebt, bis die Lust versiegt. Wir haben gelacht,
bis der Körper erschlafft. Fake war die Welt,

bevor ich dich traf: Sorge dich nicht, ich
übergebe dich nicht dem Gevatter Schlaf.

1 Zwei Tauben, Adam, sind deine Augen.
Süß wie Honig sind deine Lippen.
Königlich ist dein Schwanz so wie der König Salomos.

 

 

Samstag, 4. Dezember 2021

Gabriel Wolkenfeld in der Berliner Volksbühne

 

Etwas ganz Besonderes erwartet uns und die hoffentlich vielen Leser: am heutigen Samstag, den 4.12.21. Unser Autor Gabriel Wolkenfeld liest aus seinem neuen Roman "Babylonisches Repertoire". Der Ort der Lesung ist ein ganz großer: die Berliner Volksbühne, und dort im Grünen Salon. Zu finden ist die Volksbühne am Rosenthaler Platz.

Den Gedichtband "Sandoasen" aus unserem Verlag hat er natürlich auf seinem Büchertisch. Und auch heute gesichtet im Buchladen Eisenherz, da sieht man beide Bücher auf dem vordersten Tisch im Eingangsbereich:

 

 
 

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