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Freitag, 19. Januar 2024

Rezension "Prinzenverstecke" (S. Marciniak) bei Signaturen-Magazin

Rezension von Florian Birnmeyer im Magazin Signaturen zu Steffen Marciniaks Gedichtband Prinzenverstecke (Januar 2024):


Link:
 

Es gibt Gedichtbände, die bestechen durch ihre Komposition, durch ihre ausgearbeitete Struktur ebenso wie durch Sprache und Rhythmus. Zu diesen lyrischen Werken gehört Prinzenverstecke, ein schmaler Band aus dem Hause Lyrik Edition NEUN, dem man mehr zutrauen darf, als der bescheidene Umfang von 27 Gedichten zunächst vermuten lässt.

Steffen Marciniak begibt sich in den drei mal neun Gedichten, die jeweils einem inhaltlich bzw. formal strukturierenden Thema (PrinzenversteckeZiffermythenNordlauschen) untergeordnet sind, auf die Suche nach dem Verlorenen, dem versteckten Prinzen, der bukolischen Liebe, die er in mythischen Landschaften und nordischen Gefilden zu finden hofft.

Nicht Edelweiß noch Miere weisen den Weg
Zu einem arkadisch durchflößten Leben ⋅ für mich
Und dich ⋅ bis dann Basaltgesteine anheben:

 

Zu einer Steinblume  die ein Geländer bildet
Um neunundneunzig Stufen zu einer Pforte
Hinter der ich deine geheime Insel vermute.
 
(Steinblume)

Marciniaks Lyrik ist gerichtet auf die – nicht blaue, aber doch romantisch verklärte – Blume, die im ersten Teil des Bandes mal als Wüstenblume, dann wieder als Steinblume und schließlich als Meeres-, Schnee- oder auch als Feuerblume vorkommt. Das lyrische Ich durchlebt die verschiedenen Stadien der natürlichen Elemente und wechselt zwischen Utopie, Bukolik, Melancholie und Prinzenversteck, dem idealisierten und geliebten Du der Gedichte, hin und her.

Ich schreite voran und schreie nach dem Sinn
Dieser schroffen Wüste voll rauer Sedimente
Doch ich finde den See mit den rosa Flamingos.
 
(Salzblume)

Im zweiten Teil des Bandes gibt die Ziffernlogik von 1 bis 9 den Gedichten eine Struktur vor, dazu kommt eine mythologische Thematik, gerade so als sollte die leidenschaftliche Aussage der vorangegangenen neun Gedichte durch die neu gefundene Ordnung aufgewogen und ins dialektische Gegenteil verkehrt werden. Während sich Gedicht 1 dem ersten Menschen der Bibel, Adam, widmet, folgt mit dem zweiten Gedicht ein mythologisches Werk über die Dioskuren usw.

Mythologie und Nummernsymbolik verbinden sich bei Marciniak gekonnt, auch wenn dies manchmal wie ein in der neueren Lyrik ungewohntes Korsett wirkt. So begegnen wir im Gedicht Vier Ströme den vier Elementen, den vier Erzengeln und den vier Himmelsrichtungen genauso wie den vier Tageszeiten und Jahreszeiten:

Über dem Obelisken  der an den Himmel reicht
Ahne ich die Blitze aus Glanz der vier Thronengel
Michael  Uriel  Gabriel  Raphael. Am Weltentisch
Lenken sie meinen Blick in vier Sonnenrichtungen:

 

Afrika im Süden  am Nil  gehüllt in Vergangenheit
Der ersten Menschen  die hier aufgetaucht sind.

Wer vermutete hier den Quell des Entstehens? 


Marciniak schreibt eine formal sehr ausgeklügelte Lyrik, die mitunter ein wenig zu sehr auf die Gelehrsamkeit und die mythologische Erlesenheit setzt und darüber ins Prosaische hinübergleitet. Stark ist Marciniaks Dichtung dort, wo er Erfahrung, Gefühl und Mythologie, Sage, Märchen zu einem wirkkräftigen Ganzen verbindet:

Im Klingen erwacht aus dem Schlafe die Nacht 
Die Mondlibellensichel leuchtet den Flügelwesen
Ihren Weg. Wie Glühwürmchen im Pizzicatoschritt
Finden elfische Gäste sich zur Mittsommernacht ein.

Dies trifft vor allem auf den dritten Teil des Bandes zu, der nordische Sage mit Reise- und Lebenserfahrungen in Lettland, Litauen, Norwegen, Dänemark sowie klassischen Musikstücken kombiniert, die man als Ergänzung zu der Lektüre anhören kann (Genannt wird zu jedem der neun abschließenden Gedichte ein Komponist mit Musikstück). Marciniaks Gedichte in diesem Teil sind im Grunde poetische Kommentare zu der Musik, die diese in lyrischer Form weiterentwickeln, in einer raffinierten Verknüpfung verschiedener Kunstformen und Gattungen.

So zum Beispiel in Lettische Farben (Musikstück: „Regenbogen“ von Janis Ivanovs):

Siebenmal blitzt im Regenbogen der Harfenhall,
Die Schar der Geigen schiebt Nässewolken fort
Und letzte Tropfen malen den Farbenkreis.
 
Mal ruhig, mal düster, mal persönlich, dann wieder poetologisch zu lesen fährt Marciniak in diesem letzten Teil noch mal alle Geschütze auf und wechselt häufig die Tonart und Sprechweise. Persönlich wird es beispielsweise in Schwedische Nächte, wo die Dichotomie aus Utopie, Ideal, idealisierter Liebe und Traurigkeit und Melancholie wiederkehrt:

Traurigkeit schmelzt [sic!] meine Kraft  wenn andere
Spotten  weil ich süße Worte dir widme  wie
Auch den Engeln oder Epheben – Da trittst du
Auf meine Schwelle und lockst mich ins Freie.

Im letzten Gedicht des Bandes Ukrainische Gebete wird die Komposition von Valentin Silvestrov aus dem Jahr 2014 von Marciniak poetisch kommentiert, wobei das Gedicht durchaus politischer und kämpferischer hätte formuliert sein dürfen.

Ein Gebet den Verteidigern  denen mit jedem Ruf
Der Geige  eine Blume aus der Heimaterde wächst 
Mit weißen Blüten aus Schmerz. Über Dornen weht
Der Wind zum Traum  einer Rückkehr in die Freiheit.

Marciniaks Domäne ist jedoch nicht der Kampf, sondern das Individuum, die Sage, das Bukolisch-Gefühlvolle. Er ist ein mythologisch belesener und vorgebildeter Lyriker, der sich in der Utopie und im Altertum zuhause fühlt, auch wenn das in unseren Zeiten nicht überall Anklang findet.


 

Mittwoch, 2. August 2023

Carmen Jaud bei den "Signaturen"

 

Die Signaturen haben ein Gedicht von Carmen Jaud aus "Nachtheu" veröffentlicht:

 


 

blut
 

nebelfalle kappt den flügelschlag
lautloser bettelrufe. ich war zu weit gegangen,
mit roten strümpfen durch die augenhöhen
von katzen, deren übermütiges wachstum
sie mir immer näher brachte. bekunde getier
mit dem körper · bekenne morastiges zwielicht ·
sprich von mondstürzen in dein gefieder.
es war übermut, die schrittfolgen
der elster zu tanzen. tiere untersuchten mich,
als wäre ich blut · energie · als gehörte ich
zu essbaren schrecken. ich zeigte
mit dem finger auf mich. aller text
schaltete sich ab. wehe, du nennst sie
 
 

Donnerstag, 9. Dezember 2021

Besprechung von Gabriel Wolkenfelds "Sandoasen" bei "Signaturen"

 

Stefan Hölscher


Gabriel Wolkenfeld: Sandoasen. Gedichte – Israelisches Album. 
Berlin (Verlag der 9 Reiche – Hg. Steffen Marciniak) 2021. 32 Seiten. 9,00 Euro.

Das Flirren der Oasen

Rezension von Stefan Hölscher zu G. Wolkenfeld: Sandoasen 

Zwei Jahre ist es her, dass ich Tel Aviv und Jerusalem besucht habe, zwei Orte, die tiefe Spuren in mir hinterlassen und solgleich das Verlangen geweckt haben, mehr von dem faszinierenden Land Israel kennenzulernen, für dessen Besuch uns damals nicht mehr als zwei Wochen blieben. Andere Orte, andere Land- und Küstenstriche, andere Momente israelischer Kultur zu erfahren: dazu bot sich jetzt ganz unerwartet eine weitere Gelegenheit. Und ganz pandemiekonform bot sie sich so, dass ich zugleich zu Hause sitzen bleiben und poetisch-virtuell auf Reise durch das Land gehen konnte. Eine Reise, die, obwohl kürzer als die erste, dieses Mal sogar durch ganz verschiedene Orte führte: Jerusalem und Tel Aviv waren erneut dabei, aber auch Java, Petach Tikwa, Bethlehem, Caesarea, Akkon, Tiberias, Haifa, Afula, Netanya und andere Orte mehr. Orte, durch die uns Gabriel Wolkenfeld in den Gedichten seines „Israelischen Albums“ „Sandoasen“ führt, das in der von Steffen Marciniak herausgegebenen Reihe „Lyrik Edition NEUN“ erschienen ist.

Nicht nur, weil das Bändchen mit gerade mal 30 Seiten vom Umfang sehr dünn ist, und nicht nur, weil die prosanahen Gedichte darin einen weich fließenden Duktus aufweisen, sondern auch weil Wolkenfelds Sprache in diesem Band Lesenden keinerlei Hürden in den Weg stellt, sind die „Sandoasen“ schnell zu durchreisen. Wolkenfeld bedient sich einer bildstarken, zugleich aber eingängigen lyrischen Rede, die auf Elemente wie das Zerlegen von Wort- und Satzmaterial, das Wechseln und In- und Gegeneinanderschieben verschiedener Sprachebenen, den Einbau anderer Textgattungspassagen in das lyrische Gebilde und andere Formen, die das Lesen zeitgenössischer Lyrik fordernd und sperrig machen können, komplett verzichtet. Man könnte Wolkenfelds Texten zum Vorwurf machen, dass sie 0,0% Avantgarde und viel zu viel poetische Herkömmlichkeit enthalten. Man könnte sie aber auch ganz ungehemmt genießen und sich mit ihnen auf eine poetische Reise begeben. Und das ist dann keine Israel-Saison-Katalog-Pauschalreise, sondern ein sensitives, auch durchaus melancholisch gefärbtes, in jedem Fall aber durch und durch persönlich geprägtes Erfahren israelischer Orte, die Wolkenfeld immer wieder aus ungewöhnlichen Perspektiven betrachtet, zum Beispiel gleich im Startgedicht der Sammlung:

Meist grußlos fegen die Mauersegler den Betenden die Kippot von den Köpfen. Verschwinden in fingerbreiten Sekundenhotels, aus Jerusalemstein ohne Applikationen, mit Insektensnackbar.
(aus „Jerusalem I“)

Oder hier:
Der Himmel auf den Bildern graut nach. Benebelt von Weihrauchschwaden taumelt eine kleine Sünderin zurück in diesem unheiligen Alltag. Die Müllabfuhr nimmt ihr die Vorfahrt. In einer Werkstatt unweit der Geburtskirche schnitzt ein arabischer Junge das hundertste Jesuskind.
(aus „Bethlehem“)

 

 
 
Wolkenfelds Wahrnehmen ist immer ein Verweben: ein Verweben von spirituell Aufgeladenem („die Betenden“ an der Klagemauer) und (mauer-)segelnd leicht Hinwegfegendem („fegen von den Köpfen“), von historisch Bedeutsamem („Jerusalemstein“) und situativ komisch Dazwi-schenfahrendem („Insektensnackbar“, „Müllabfuhr“), von evident erscheinend Realem („Himmel“) und schrägen Imitaten („Der Himmel auf den Bildern graut nach“; „das hundertste Jesuskind“)  und auch ein Verweben von Außen und Innen, von Natur und Ich bzw. Du, von Gegenwärtigem und Erinnertem:

Masada
 
Für den Hibiskus hafte ich nicht. Keine Blüte trägt die Feige. Hundertfach lässt der Mohn seinen Kopf hängen: Grün schaukeln die Kapseln im Wind. Fast schon ein Wunder, dass die Hälse, bindfadendünn, nicht einfach reißen. Den Scherenschnitten der Akazie sind unsere Träume verwandt, den Spuren der Salamander im Sand. Uns, noch am ehesten, ist die wilde Ödnis gemäß. Wir gehören nicht in Gärten voll üppiger Schönheit. Wir kommen aus der Wüste, wo verbrennt, was die Sonne begehrt, und verdunstet, wer seine Körpersäfte nicht bei sich zu halten vermag. Undenkbar von hier: der Wellengang der Levante, die Schneewehengesichter derJerusalemerinnen, die Akupunktur des Himmels. Meine Wirbel konkurrieren nicht mit den Säulen des Westpalastes. Neuland sind meine Gebete. Meine Volljährigkeit ist verjährt: Auf der Morgenseite meiner Erinnerung führt ein Junge in den Perlonstrümpfen seiner Mutter babylonische Tänze auf.

Was so entsteht, sind in jeder Bedeutung dieses Wortes intensiv sinnlich bewegte Impressionen: ein Flirren der Wahrnehmungsbilder ähnlich dem Flirren der aufgeheizten Luft in den Sandoasen. Zugleich entsteht aber auch quasi als Kontrast zum ruhelosen Flirren eine ordnende Struktur durch die von Wolkenfeld favorisierten kurzen und grammatisch in sich glasklaren Sätze. All dies begünstigt das schon erwähnte Phänomen des Schnelllesens und –reisens, zu dem die Oasengedichte einladen können.

Wert sind sie es jedoch sicherlich, auch ein zweites, drittes, weiteres Mal gelesen zu werden mit dem Auge des Entdeckers, das in Wolkenfelds Sandoasen auch beim wiederholten Hinschauen noch fündig werden wird, und sei es, dass es entdeckt, dass sich inmitten all der israelischen Ortsgedichte ein königlich-queeres Liebesgedicht eingeschlichen hat:

Drei Könige
 
Der Abend ist müde. Die Nacht
erwacht, und zeigt sich im Sternenkleid.

Der Regen trommelt leise sein
Lied gegen die Scheibe. Ich schreibe dazu

mit meinem Zeigefinger ein paar Zeilen
auf deine Schulterblätter.
שתי יונים, אדם, הן עיניך.
מתוקות מדבש שפתיך.
האיבר שלך מלכותי כמו של המלך שלמה.1

Wir sind unterzuckert. Wir haben
des Zaunkönigs Traurigkeit eingeatmet.

Geliebt, bis die Lust versiegt. Wir haben gelacht,
bis der Körper erschlafft. Fake war die Welt,

bevor ich dich traf: Sorge dich nicht, ich
übergebe dich nicht dem Gevatter Schlaf.

1 Zwei Tauben, Adam, sind deine Augen.
Süß wie Honig sind deine Lippen.
Königlich ist dein Schwanz so wie der König Salomos.

 

 

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