Stefan Hölscher
Gabriel
Wolkenfeld: Sandoasen. Gedichte – Israelisches Album.
Berlin (Verlag der 9
Reiche – Hg. Steffen Marciniak) 2021. 32 Seiten. 9,00 Euro.
Das
Flirren der Oasen
Rezension von Stefan Hölscher zu G. Wolkenfeld: Sandoasen
Zwei Jahre ist es her, dass
ich Tel Aviv und Jerusalem besucht habe, zwei Orte, die tiefe Spuren in mir
hinterlassen und solgleich das Verlangen geweckt haben, mehr von dem faszinierenden
Land Israel kennenzulernen, für dessen Besuch uns damals nicht mehr als zwei
Wochen blieben. Andere Orte, andere Land- und Küstenstriche, andere Momente
israelischer Kultur zu erfahren: dazu bot sich jetzt ganz unerwartet eine weitere
Gelegenheit. Und ganz pandemiekonform bot sie sich so, dass ich zugleich zu
Hause sitzen bleiben und poetisch-virtuell auf Reise durch das Land gehen
konnte. Eine Reise, die, obwohl kürzer als die erste, dieses Mal sogar durch
ganz verschiedene Orte führte: Jerusalem und Tel Aviv waren erneut dabei, aber
auch Java, Petach Tikwa, Bethlehem, Caesarea, Akkon, Tiberias, Haifa, Afula,
Netanya und andere Orte mehr. Orte, durch die uns Gabriel Wolkenfeld in den
Gedichten seines „Israelischen Albums“ „Sandoasen“ führt, das in der von
Steffen Marciniak herausgegebenen Reihe „Lyrik Edition NEUN“ erschienen ist.
Nicht nur, weil das Bändchen
mit gerade mal 30 Seiten vom Umfang sehr dünn ist, und nicht nur, weil die
prosanahen Gedichte darin einen weich fließenden Duktus aufweisen, sondern auch
weil Wolkenfelds Sprache in diesem Band Lesenden keinerlei Hürden in den Weg
stellt, sind die „Sandoasen“ schnell zu durchreisen. Wolkenfeld bedient sich
einer bildstarken, zugleich aber eingängigen lyrischen Rede, die auf Elemente
wie das Zerlegen von Wort- und Satzmaterial, das Wechseln und In- und Gegeneinanderschieben
verschiedener Sprachebenen, den Einbau anderer Textgattungspassagen in das lyrische
Gebilde und andere Formen, die das Lesen zeitgenössischer Lyrik fordernd und
sperrig machen können, komplett verzichtet. Man könnte Wolkenfelds Texten zum
Vorwurf machen, dass sie 0,0% Avantgarde und viel zu viel poetische Herkömmlichkeit
enthalten. Man könnte sie aber auch ganz ungehemmt genießen und sich mit ihnen
auf eine poetische Reise begeben. Und das ist dann keine Israel-Saison-Katalog-Pauschalreise,
sondern ein sensitives, auch durchaus melancholisch gefärbtes, in jedem Fall aber
durch und durch persönlich geprägtes Erfahren israelischer Orte, die Wolkenfeld
immer wieder aus ungewöhnlichen Perspektiven betrachtet, zum Beispiel gleich im
Startgedicht der Sammlung:
Meist grußlos fegen die Mauersegler den Betenden die Kippot von den Köpfen. Verschwinden in fingerbreiten Sekundenhotels, aus Jerusalemstein ohne Applikationen, mit Insektensnackbar.(aus „Jerusalem I“)
Oder
hier:
Der Himmel auf den Bildern graut nach. Benebelt von Weihrauchschwaden taumelt eine kleine Sünderin zurück in diesem unheiligen Alltag. Die Müllabfuhr nimmt ihr die Vorfahrt. In einer Werkstatt unweit der Geburtskirche schnitzt ein arabischer Junge das hundertste Jesuskind.(aus „Bethlehem“)
Wolkenfelds Wahrnehmen ist immer ein Verweben:
ein Verweben von spirituell Aufgeladenem („die Betenden“ an der Klagemauer) und
(mauer-)segelnd leicht Hinwegfegendem („fegen von den Köpfen“), von historisch Bedeutsamem
(„Jerusalemstein“) und situativ komisch Dazwi-schenfahrendem
(„Insektensnackbar“, „Müllabfuhr“), von evident erscheinend Realem („Himmel“)
und schrägen Imitaten („Der Himmel auf den Bildern graut nach“; „das hundertste
Jesuskind“) und auch ein Verweben von
Außen und Innen, von Natur und Ich bzw. Du, von Gegenwärtigem und Erinnertem:
Masada
Für den Hibiskus hafte ich nicht. Keine Blüte trägt die Feige. Hundertfach lässt der Mohn seinen Kopf hängen: Grün schaukeln die Kapseln im Wind. Fast schon ein Wunder, dass die Hälse, bindfadendünn, nicht einfach reißen. Den Scherenschnitten der Akazie sind unsere Träume verwandt, den Spuren der Salamander im Sand. Uns, noch am ehesten, ist die wilde Ödnis gemäß. Wir gehören nicht in Gärten voll üppiger Schönheit. Wir kommen aus der Wüste, wo verbrennt, was die Sonne begehrt, und verdunstet, wer seine Körpersäfte nicht bei sich zu halten vermag. Undenkbar von hier: der Wellengang der Levante, die Schneewehengesichter derJerusalemerinnen, die Akupunktur des Himmels. Meine Wirbel konkurrieren nicht mit den Säulen des Westpalastes. Neuland sind meine Gebete. Meine Volljährigkeit ist verjährt: Auf der Morgenseite meiner Erinnerung führt ein Junge in den Perlonstrümpfen seiner Mutter babylonische Tänze auf.
Was so entsteht, sind in jeder Bedeutung dieses
Wortes intensiv sinnlich bewegte Impressionen:
ein Flirren der Wahrnehmungsbilder ähnlich dem Flirren der aufgeheizten Luft in
den Sandoasen. Zugleich entsteht aber auch quasi als Kontrast zum ruhelosen Flirren
eine ordnende Struktur durch die von Wolkenfeld favorisierten kurzen und grammatisch
in sich glasklaren Sätze. All dies begünstigt das schon erwähnte Phänomen des
Schnelllesens und –reisens, zu dem die Oasengedichte einladen können.
Wert sind sie es jedoch
sicherlich, auch ein zweites, drittes, weiteres Mal gelesen zu werden mit dem
Auge des Entdeckers, das in Wolkenfelds Sandoasen auch beim wiederholten
Hinschauen noch fündig werden wird, und sei es, dass es entdeckt, dass sich
inmitten all der israelischen Ortsgedichte ein königlich-queeres Liebesgedicht
eingeschlichen hat:
Drei Könige
Der Abend ist müde. Die Nacht
erwacht, und zeigt sich im Sternenkleid.
Der Regen trommelt leise seinLied gegen die Scheibe. Ich schreibe dazumit meinem Zeigefinger ein paar Zeilenauf deine Schulterblätter.
שתי יונים, אדם, הן עיניך.
מתוקות מדבש שפתיך.
האיבר שלך מלכותי כמו
של המלך שלמה.1
Wir sind unterzuckert. Wir habendes Zaunkönigs Traurigkeit eingeatmet.Geliebt, bis die Lust versiegt. Wir haben gelacht,bis der Körper erschlafft. Fake war die Welt,bevor ich dich traf: Sorge dich nicht, ichübergebe dich nicht dem Gevatter Schlaf.
1 Zwei Tauben, Adam, sind
deine Augen.
Süß wie Honig sind deine
Lippen.
Königlich ist dein Schwanz
so wie der König Salomos.
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