Tartarin mit Stöpseln im Ohr
– Notizen zu Gabriel Wolkenfelds Gedichtband Nebelatlas
(Ukrainisches Album) –
Dezember 2022, zehn Monate nach Putins „Blitzkrieg“ gegen
die Ukraine, erschien im Verlag der 9 Reiche ein Band mit 25 Gedichten von
Gabriel Wolkenfeld. “Mein Band ‚Nebelatlas (Ukrainisches Album)‘ mit 25
Gedichten zu Orten in der Ukraine – Begegnungen mit Land und Leuten,
alltäglichen Beobachtungen, Ergebnis meiner jahrelangen Beschäftigung mit
ukrainischen Künstlern und Künstlerinnen und Autoren und Autorinnen,
Erinnerungen an meine Zeit in der Ukraine…“ schreibt der Autor auf seiner
Website. Ein knappes Jahr später bekam ich diesen Band, der mich schon beim
ersten Hineinlesen fesselte. Die Faszination hat auch nach dem vierten Lesen
nicht nachgelassen.
Die im Zank entzweiten werden sich nicht mehr
vertragen, aber vielleicht einigen sie sich darauf,
dass sie eine Mutter haben.
Damit ist am Ende des ersten Gedichts (Kyjiw I) eine
Hoffnung ausgedrückt. Ob sie realistisch ist? Vielleicht in fernerer Zeit mit
einem anderen Russland und einer weiterhin freien Ukraine. In den folgenden
Texten wird diese Hoffnung nicht mehr aufgegriffen, der Autor verkneift sich
den Blick in die Zukunft.
An den Ständen auf dem Andreassteg werden
T-Shirts angeboten, mit Dill oder Dreizack bedruckt.
Besonders populär: ПТН ПНХ
(aus: Kyjiw II; Anmerkung des Rezensenten: ПТН ПНХ heißt
übersetzt: “Putin, verpiss dich!“)
Etliche der Gedichte bestehen aus einer Abfolge von Bildern,
Situationen, Reflexionen, die jeweils für sich stehen, nicht durch ein
chronologisch oder logisch kittendes Narrativ verbunden sind. Dazwischen weißer
Raum, Leere. Die Sprache knapp.
Sie mit der DNA einer Wundertüte, mir
war, als sprächen sie im Windschatten der
Armenischen Kathedrale das Schma Jisrael.
Chamäleon unter den Städten, Raufaserseele,
europäisches Fabrikat, Folklore als Zitat.
Blasse Dame, grüner Schnabel.
(aus: Lwiw II)
Lwiw, auch Lemberg geheißen, hatte 1931 eine ethnisch
gemischte Bevölkerung, die zu 50% polnisch und zu 32% jüdisch war. Dazu kamen
16% Ukrainer und in geringer Anzahl Deutsche, Armenier u.a. Russen lebten
damals dort nur 0,2%. Nach der Besetzung durch Nazideutschland, dem Krieg und
der Übernahme durch die Sowjetunion lebten 1959 in Lwiw noch 4 % Polen und 6%
Juden, jedoch 60% Ukrainer und 27% Russen. „Bevölkerungsaustausch“, von den
Nazis begonnen, von der Sowjetunion vollendet. 2001 lag der Anteil der Juden
nur noch bei 0,3 %, der der Polen bei 0,9%.
*
Die uralte Stadt Jalta, von der die Mutter Kyjiw im ersten
Gedicht augenzwinkernd sagt: mein Mädchen Jalta, die Stadt, die mitsamt der
Krim 2014 von Russland annektiert, „heim ins Reich“ geholt wurde, weil sie nach
Putins Worten russisch sei, wurde vor etwa 2600 Jahren von Griechen gegründet,
fiel später u.a. an Byzanz, an Genua, an das Osmanischen Reich und – für
weniger als ein Zehntel der Dauer ihrer Geschichte – an Russland.
Strand, der nicht Strand sein darf. Das Gebirge den
Göttern entwendet, Wolken in Umbra, Pinien,
kobaltblaue Zypressen, Palmen.
(…)
Tartarin mit Stöpseln im Ohr. Sagt, sie
wolle nichts von wissen.
Von Rentnern okkupierte Jahrzehnte, Badende ohne Untertitel.
Gesagt wird nur, was gedruckt zum Nachsprechen vorliegt.
(…)
Fürchten muss man sich von den Übergriffen der
eigenen Geschichte. Die Herren Zaren mit ihrer
Vorliebe fürs Haben, Großmannsmut der kleinen
Geister.
Halte dich an die Marktweiber. Die tragen
Gold im Mund.
(aus: Jalta)
*
Knappheit der Sprache beflügelt meine Fantasie. Mir war oft
im Nachklang des Lesens, als hätte ich eine zeitlich und räumlich ausladende
Darstellung gesehen, lange Einstellungen mit teils verlangsamter Bewegung, die
mit abrupten Schnitten enden und einer neuen Bildkonstellation beginnen.
*
Männer in Fledermausgarderobe fassen sich unter.
Frauen aus Seide und Leinen verteilen, mit
aufgemalten Gesichtern, Glückwünsche.
Die Braut? Verschwindet unter dem Schleier,
der ihr zur Heimat wird. Der Bräutigam?
Tanzt ausgelassen in seinem Totenkleid:
babylonisches Repertoire.
(aus: ‚Odessa II‘: eine jüdische Hochzeit)
Das von der Braut für den Bräutigam hergestellte Totenhemd
bei der Hochzeit zu tragen, unter der Oberbekleidung, ist ein Brauch, der
sowohl im orthodoxen Judentum als auch im Christentum über lange Zeit in
manchen Regionen üblich war.
*
Anspielungen in den Gedichten zahlreich. Einigen konnte ich
auf die Schliche kommen, andere blieben mir verschlossen oder ich konnte sie
nicht zuordnen. Aber ist das so wichtig? Muss man alles „verstehen“? Ist die
Dunkelheit eines Gedichts oder von Versen eines Gedichts nicht erst einmal
hinzunehmen, in sie hineinzulauschen, anstatt sie in einem übergriffigen
„Aufklärungs“impuls zu „entschleiern“ – was doch mitunter nichts anderes
bedeutet, als dass dem Gedicht eine bestimmte Sicht übergestülpt wird und damit
eine Beschränkung? Werden nicht manchmal sogar Verse, die auf den ersten Blick
ganz klar erscheinen, bei längerer Be- trachtung immer dunkler, fremder,
unzugänglicher? Der österreichische Psychiater Christian Scharfetter (1936 –
2012) empfahl einem jungen Assistenzarzt für den Umgang mit unzugänglichen
Patienten, dass Zurückhaltung angesagt sei. Nicht im Verstehen-Wollen des
Patienten liege der Schlüssel, sondern im gemeinsamen Erleben des
Befremdlichen, wozu eine gewisse eigene Selbstentfremdung nötig sei. Erst dann
könne – gemäss jenem alten griechischen Satz – Gleiches durch Gleiches erkannt
werden, und sei es nur in wenigen Punkten Vergleichbares.
*
Der Band schließt mit Huldigungen an die drei „gealterten
Empfangsdamen“ eines Studenwohnheims in Sumy. Die erste trägt (Zufall?) den
Namen einer us-amerikanischen Dragqueen: Jekaterina Petriwna.
Mäusekönigin aus einer Zeit vor den Revolutionen,
Patronin der Pädagogen, am Stadtrand von
Sumy steht dein Domizil, Kaleidoskop aus
Kakerlaken, Sepiafassade, rostbrauner Rhabarber.
Dann Lidija Mykolajiwna:
Das Luftholen einer Nachtigall zwischen
zwei Tönen, der Flügelschlag eines Falters,
solcher Art sind deine Gesten.
Nur wenige Frauen wissen so subtil
Katastrophen auszulösen.
Ein Lächeln, erinnerst du dich, unvorsichtig
hingeworfen, der junge Mann lief in die Kutsche.
(…)
Du sitzt einfach nur da, kämmst dir das Haar.
Du weißt, wie es ist, einmal schön
gewesen zu sein.
Und zuletzt Sofija Romaniwna:
Rotflammendes Haar, Goldzahn, liebste Baba Jaga,
ohne deine Blitze kein Beben, dein Lachen
nie ohne Donner, stürzt die Welt ins Chaos.
Augen aus Asche, eine Stimme, als träfen sich
Stiefel und Kiesel. Wenn ich mich mal verspäte,
verwandle mich nicht in einen Hahn…
*
Ebenso wichtig wie das Gesagte und Dargestellte ist das
Nicht-Gesagte, das Unsichtbare, das immerzu im Raum steht: Der Frieden ist nur
eine flüchtige Phase zwischen mörderischen Ereignissen. Dem letzten
zurückliegenden Krieg folgte der jetzige, dem vergangenen Pogrom wird das
künftige folgen.
Viele der in dem Band genannten Städte wiesen früher einen
hohen Anteil von Juden in der Bevölkerung aus. Lwiw, Poltawa, Iwano-Frankiwsk,
Kamjanez-Podilskyj, Hluchiw: In der Vergangenheit Pogrome und Massaker, wohin
man schaut. Die Vernichtung der mittelosteuropäisch-jiddischen Sprachwelt.
Hierüber schweigt der Autor weitgehend, schreibt über das, was er, als er dort
war vor einigen Jahren war, erlebte und beobachtete, öfter deutet er das
Vergangene an.
Karpatenspross im Vorgebirge, galizische Schöpfung.
Erzogen nach Vorbild der österreichischen Monarchie,
Ziegeldächer in Rostfarbe, Kirchen und Kathedralen.
Ukrainisch verköstigt, köstliches jiddisches
Wort, sowjetische Norm.
Du bist der Beweis, dass ein Pass nichts ist
gegen die Raublust der Diktatoren, Buchstaben,
Zahlen, geschrieben mit Asche auf Asche.
(aus: Iwano-Frankiwsk)
*
Nur zuweilen tritt der gegenwärtige Krieg voll ins Licht:
Beidseitig gelähmt sind die Träume, abgeschnitten
die Fluchtwege. Der Tod kommt per Anhalter. Von
den Sevanchuks nimmt er die jüngste Tochter mit
und die Alte, die vorgestern noch am Kiosk stand.
In unserem Haus halten alle Stellung: Oma bindet
mit dem Kleinen Schleifen in Tarnfarben um die
Schlaufen des Maschendrahtzauns.
Wir mischen, wenn Sascha schläft, Explosives
in Flaschen. An den Schrank darf er nicht ran. Er weiß:
Dort sind die Geschenke für die Befreier.
(aus: Kriegstagebuch II)
*
Das Gedicht ‚Tscherniwizi II‘ ist der 18-jährig in einem
Arbeitslager der SS an Fleckfieber verstorbenen jüdischen Dichterin Selma
Meerbaum-Eisinger gewidmet:
In tiefster Finsternis erfand sie Farben.
Sie nähte sich ein dünnes Kleid aus Spinngeweb,
Moos und Farnen. Den kurzen Weg nahm sie sich zum
Geliebten und an den Freund schrieb sie: Geh mir
nicht nach, mein Gehen ist Vergehen.
*
Bemerkenswert an den Texten dieses Bandes finde ich ihre
Diskretion. In einer Zeit, in der es alltäglich geworden ist, von der eigenen
Herkunft zu schreiben, hält der Dichter sich zurück. Er plaudert, klagt und
hadert nicht, reißt sich die Brust nicht auf, wirft nicht mit
zeitgeistgesättigten Stichworten um sich und schafft so, mittels der sehr
eigenen Sprachtracht und Musik der Gedichte, eine Distanz. Erst solche Distanz
„trifft ins Herz“, führt (für mich – andere mögen es anders wahrnehmen) zu der
Nähe, die das vermeintlich Unmittelbare einer Aussage, die sich um Stil, Form
und dgl. angeblich nicht kümmert und der es nur um „Inhalt“, um Authentizität
geht, im Gedicht letztlich nicht erreichen kann.
*
In ‚Babyn Jar‘ betrachten wir eine Sonntagsidylle:
Sommernachmittag bei Picknick und Grill nahe der Schlucht. Nur ein Halbsatz
deutet an, was hier geschah, dass Ende September 1941 in dieser Schlucht bei
Kyiv innerhalb von 48 Stunden über 33.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder
hingemetzelt wurden: Er weiß nichts von Juden…
Es ist hier nicht nur die oft beklagte Erinnerungslosigkeit
späterer Generationen. Im Gegenteil: diejenigen, die den Krieg erlebten,
verdängen und vergessen ihn, kaum vorbei, trotz aller Gedenkfeiern und
Mahnungen geradezu leidenschaftlich. Ich denke zurück an die 50er und frühen
60er Jahre: Trotz des geräuschvollen Wiederaufbaus hörte man das Gras wachsen
und war stets in Angst vor einem nahe bevorstehenden 3. Weltkrieg, gleichzeitig
aber verhielten sich die Leute (zumindest außerhalb der Familien), als hätte es
die Nazi-Diktatur und den Krieg nicht gegeben. Mich erstaunt und erinnert die
Selbstverständlichkeit, mit der das nachwachsende Leben die Höllen der
Vergangenheit überwuchert, an den Satz Kafkas über den Panther am Schluss der
Erzählung ‚Ein Hungerkünstler‘: „Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm
ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht einmal die Freiheit schien er zu
vermissen; dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete
Körper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiß
schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus
seinem Rachen, dass es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten.“
Ein Junge verkauft aus seinem Wagen heraus
Coffee-To-Go. Die Pilger schickt er in keine
Richtung.
Er weiß nichts von Juden, weiß nicht, dass die
Stadt ihre Toten eingemeindet hat.
Aus den Gräben dröhnt Pop. Familienväter
stehen am Grill, wenden, sobald es schön
knusprig ist, das Fleisch.
Ihre Söhne jagen Bällen hinterher. All ihre
Kraft legen sie in den Schuss.
Einige Jahrzehnte zuvor sagte die Zeugin Dina Pronitschewa
aus: „Eine nackte Mutter verbrachte ihre letzten Augenblicke damit, ihrem
Säugling die Brust zu geben. Als das Baby lebendig in die Schlucht geworfen
wurde, sprang sie hinterher.“
Klaus Anders
Nebelatlas. Ukrainisches Album. Gedichte von Gabriel
Wolkenfeld, Gabriel, Verlag der 9 Reiche, Berlin 2022