Verlag der Neun Reiche — Lyrik Edition NEUN — Lyrik — Prosa — Anthologie

„Wisse, daß jedwede Zahl nichts anderes ist als 9 oder ein Vielfaches davon, zuzüglich eines Darüberhinausgehenden. Wer das Darüberhinausgehende und den Multiplikator von Neun kennt, der kennt das Wesen und die Zahl in jeder Beziehung.“ --- Ibn Sina (lat. Avicenna, persischer Philosoph, Dichter, Arzt, Astronom, Alchemist, 980-1037)

Montag, 15. Januar 2024

Reiner Narr in der "Frankenpost"

 
Am 7. November 2023 in der "Frankenpost" ein große Seite mit einem Bericht zu einer Veranstaltung und Gespräch von und mit Reiner Narr zu seinem Gedichtband Rabenhaupt:
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 



Artikel von Nico Schwappacher:
 
Der Verse aus Träumen schöpft.
Der in Issigau aufgewachsene Dichter Reiner Narr lässt sinnliche Wortbilder aus seinem Unterbewusstsein sprießen. In Hof könnte sich mancher an ihn erinnern: als jungen Poeten im „Grufti"- Look HOF/ISSIGAU/BERLIN.
Nach dem letzten Wort zoomt die Kamera direkt auf das Auge. Hochtoupierte Haare, weiß geschminktes Gesicht, schwarzer Kajal - ein Anhänger der Gothic-Szene. Vielleicht erinnert sich mancher Hofer an die Szene. An jenem Tag, an dem er seine düsteren Worte am Sonntagnachmittag im ZDF verlesen darf, feiert der Poet seinen 16. Geburtstag. Die Stadt Hof hatte Reiner Narr entsandt, um sie im „Städteturnier" zu vertreten, in dem einst die Kulturszenen verschiedener Städte vor laufenden Kameras gegeneinander antraten.
Immerhin hatte unsere Zeitung den in Issigau aufgewachsenen Poeten bereits im Alter von zwölf Jahren als literarisches Wunderkind gefeiert. Eine Freundin der Mutter hatte unserer Zeitung Gedichte des Knaben zukommen lassen - was die Aufmerksamkeit der Hofer Kulturszene auf ihn lenkte.
„Anders kann ich's nicht sagen",
so erklärte er damals, noch als schüchterner Junge, seinen Drang zur Feder. Vier Jahre später - da fällt das lange schwarze Haar bereits auf einer Kopfseite schulterlang herab - gibt er verheißungsvoller zu Protokoll:
„Die Reise geht weiter immer voran, ich darf nicht aufgeben und mich der Dunkelheit überlassen."
Aus dieser Motivation erwuchs wohl auch der erste Gedichtband, den der inzwischen 48-Jährige in diesem Jahr vorgelegt hat:
„Rabenhaupt" heißt das Büchlein, auf dessen 32 Seiten Narr seine Leser durch atmosphärisch dicht gewobene Traumbilder führt.
„Wir trinken Zwielicht aus kleinen Tassen und wiegen uns sanft mit dem Baum, der den Mond trägt in seinem Haar.“
„Rabenhaupt" - in der Alchemie steht dieser Begriff für den schwarzen Niederschlag auf Quecksilber, der bei der Herstellung von Quecksilberoxid entsteht. Auf dem Weg hin zum Hellen, zum Stein der Weisen, braucht es also zunächst einen Status des Dunklen, des Unreinen.
Aus der Dunkelheit destilliert ist denn auch Narrs Buch-Debüt:
Eine Krebsdiagnose im Jahr 2020 war es, die in ihm den Gedanken, das eigene Schreiben wieder ernsthafter zu betreiben, zur Frucht gedeihen ließ.
„Auf dem Heimweg zähle ich die Sterne, die verhalten und kühl durch die schwarze Wolkendecke funkeln.
Bei jedem Neuen denke ich:
es gibt keinen Tod,
es gibt keinen Tod,
es gibt ihn einfach nicht."
Am 21. November stellt Narr seinen Band bei einer Lyrik-Performance in der Stadtbücherei Hof vor. Atmosphärische Musik wird dabei die Worte untermalen. Der „Grufti" aus der Buchhandlung. Doch noch einmal ein Zeitsprung, zurück in die frühen 1990er-Jahre: Reiner Narr ist Teenager - und gehört in Issigau nicht zu den coolen Kids. Dichter und schwul - und
dann noch „Grufti", wie damals viele die Anhänger der Schwarzen Szene mit einem Unterton von Unverständnis und Abwertung titulierten.
Der Weg zur Schule durchs Dorf sei ein Spießrutenlauf gewesen: „Die Leute dachten: Der schläft im Sarg, spritzt Hasch und hat Aids", erzählt er.
Schon deshalb hält sich Narr damals lieber in Hof auf, also in der Stadt, wo es in vielen Köpfen ein wenig toleranter zugeht. Dort macht er eine Ausbildung zum Buchhändler, im damaligen Gondrom in der Altstadt. Wegen seines extravaganten Äußeren sei er dort schnell bekannt gewesen „wie ein bunter Hund". „Und wegen der Dichterei hatte ich auch eine gewisse Narrenfreiheit", merkt er an. Gleichgesinnte kommen in den Laden, um zu plauschen - da seien auch Freundschaften entstanden.
„Ich hab mein Segel gehisst auf den Wassern der Zeit.
Der Wind, der mich antreibt, ist die Liebe."
In Dialog mit dem Unterbewusstsein
1995 zieht Reiner Narr nach Berlin, wo er bis heute lebt. 17 Jahre lang arbeitete er dort als Buchhändler in einem Buchladen, dessen Sortiment sich an Schwule, Lesben und andere Angehörige der LGBTQ+-Community richtet. Auch ein Studium unter anderem der Religionswissenschaften absolviert er in der Bundeshauptstadt, nicht zuletzt aufgrund
seiner in der durchaus bildungsbeflissenen Goth-Subkultur gewachsenen Faszination
für das Numinose und seine vielfältigen Manifestationsformen in der Kunst.
Texte zu schreiben wie Robert Smith, Frontmann der englischen Post-Punk-Legende The Cure, habe er sich damals zum Ziel gesetzt, nachdem eine Freundin der Mutter ihn im Teenager-Alter mit Schallplatten versorgt hatte.
Der Goth-Szene als solcher fühlt sich Narr heute nicht mehr zu-gehörig, wenngleich eine Vorliebe für die verschroben-surrealistischen
Wort- und Klanggebilde in ihrem Umfeld goutierter Avantgarde-Gruppen wie Current 93, The Legendary Pink Dots und Coil noch immer aus seinen Zeilen hervorblitzt.
Spiritualität und das Okkulte - für den Dichter sind sie nicht bloß schicke ästhetische Konzepte.
Denn seine Worte entspringen jenem Ort, den der moderne Mensch so oft als unheimlich zu verkennen pflegt, weil er sich den Imperativen von Kontrolle und direkter Nutzbarmachung, den Bedürfnissen und Erwägungen des Egos entzieht: dem Unterbewusstsein.
Worte dafür zu finden, was seine Lyrik eigentlich ist, dazu nötigte Narr ausgerechnet - ganz profan - ein anderer Patient bei einer Reha, auf die der Poet eigentlich gar keine Lust hatte, „weil ich dachte, da sind nur ältere Männer mit Prostataproblemen".
Was wir bewusst wahrnehmen, „das Wachbewusstsein", erklärte er ihm, sei nur wie die Spitze eines Eisbergs. Der Rest befinde sich unter Wasser. Nun stelle man sich den Eisberg als eigenständiges Wesen vor, das versucht, über Eingebungen und Träume mit uns zu kommunizieren. „Wenn es diesen Dialog einfängt, ist es für mich ein perfektes Gedicht", betont Reiner Narr.
„Doch nun hab ich mich erinnert, dass ich träume, und nicht nur einen Traum, sondern sehr viele."
Lyrik ist heute Nische
Dass Lyrik, noch dazu düstere, die sich einem unmittelbaren Verständnis entzieht, heute nur in der Nische existieren kann, weiß Narr Nur wenige Hundert Exemplare gibt es von seinem Gedichtband - ausverkauft sind sie längst nicht. Ein schier endloses Angebot an Belletristik läuft den zu kleinerer Form geschliffenen Juwelen der Wortkunst den Rang ab. Auch bei Lesungen seien die Reaktionen oft unvorhersehbar, reichten von Unverständnis über Gleichgültigkeit bis zu Begeis terung. Beim Poetry Slam, jener modernen Form des Dichterwettstreits, bei dem Wort-künstler in lockerem Rahmen vor Publikum gegeneinander antreten, habe er keine Chance, findet Narr. „Dafür muss man entweder politisch sein oder lustig“
Sein bisher dankbarstes Publikum habe er jüngst in einem Kreis von Bildungsbürgern deutlich gesetzten Alters gefunden. Warum?
„Vielleicht, weil die näher am Tod sind", mutmaßt der Künstler - nicht ohne ein Schmunzeln. Er sehnt sich nach Tiefe. Ob er sich eine Wiederverzauberung der Welt wünschen würde, wie sie einst die Romantiker forderten? Er bejaht.
Der wild wuchernde Materialismus der modernen Welt - für ihn ist er auch Symptom ausbleibender Innenschau. Vielleicht liegt im Traum ja der Schlüssel zu einer besseren Realität? Vielleicht ist der Traum ja das Echte selbst?
„Du musst nur in die Stille lauschen, dann erblüht die Sprache der Vögel in der Klaviatur des Lichts, das sich in den geschliffenen Steinen die auf deinem Sims liegen, bricht.
Dies ist ein Abgesang auf die Welt, die bare Münzen für bare Münze hält statt für die Knechtschaft der schwarzen, machtglitzernden Schlange“
Gut zu wissen:
Die Lyrik-Performance in der Stadtbücherei Hof beginnt am 21. November, einem Dienstag, um 20 Uhr. Reiner Narr ist dabei nicht alleine: Er hat die bekannte Künstlerin Luci van Org dabei. Mit ihr verbindet den Dichter - künstlerisch wie privat - eine Freundschaft.
Bekannt wurde sie in den 1990er-Jahren als Frontfrau des Duos Lucilectric, das den Superhit „Mädchen" (Keine Widerrede, Mann, weil ich ja sowieso gewinn, weil ich ein Mä-ä-a-ädchen bin!") landete. Mit ihrer neuen Band Lucina Soteira - deren mystisch-psychedelischer, eher melancholischer Rocksound mit Lucilectric nichts mehr gemein hat - veröffentlicht sie in diesem Herbst ein neues Album. Zu jedem der Songs hat Narr - frei assoziiert - ein Gedicht geschrieben.
Und so kann der Dichter denn auch selter lokalisieren, wo seine Ideen herkommen. Es fängt immer an mit einem flüchtigen Gefühl oder einem Bild im Kopf", erklärt er. Dann sind da zwei, drei Wörter, eine erste Zeile, ein Satz." Davon ausgehend baue er das Grundgerüst, an dem er feile, so lange, bis jede Silbe auf gewünschte Weise mitschwimmt im Strom der Worte.














































 

Sonntag, 14. Januar 2024

Rezension zu Safak Saricicek auf "Lyrikkritik"

Eine neue Rezension ist auf der Online-Seite von Lyrikkritik erschienen.
Florian Birnmeyer rezensiert Wasserstätten von Safak Saricicek:
 
 
Webseite: Lyrikkritik
 

„Wasserstätten“ von Safak Sarıçiçek

Der Lyriker und Jurist Şafak Sarıçiçek hat seit 2017 bereits sechs Gedichtbände bei Lyrikverlagen wie dem Elif Verlag, der edition offenes feld und dem Verlag Brot und Kunst veröffentlicht, „Wasserstätten“ ist sein sechster Titel, der in der Lyrik Edition Neun erschienen ist. Das Buch ist eine unverhohlene Hymne an das Fließen des Wassers, aber auch Kritik an Kapitalismus und Gesellschaft fließen in seine Dichtung mit ein.

Die Bände der Lyrik Edition Neun enthalten stets einen Linolschnitt des Autors und zwei weitere Linolschnitte, die vom Dresdner Grafiker Steffen Büchner stammen. Das Werk enthält neben diesen optisch ansprechenden Kunstwerken 27 Gedichte, die bei Sarıçiçek mal kürzer, mal mittellang ausfallen. Langgedichte bilden die Ausnahme. Die Lyrik von „Wasserstätten“ folgt auch ohne Reim einem Rhythmus, verfügt über etwas Eingängiges, etwas, das den Leser und die Leserin in den Bann zieht und dazu führt, dass man nicht aufhören möchte, sich mit diesem schmalen Band zu befassen.

Safak Saricicek bei Lesung in Osterode 2023
Şafak Sarıçiçeks Gedichte bestechen durch ihre splitterhafte Zusammensetzung aus auf den ersten Blick ungewohnten Elementen, die in neue Verbindungen gebracht werden. Die Kombinationen der Wörter nehmen sich dabei aus wie mosaikhafte Versatzstücke, die sich jeweils zu einem kunstvollen Bild zusammenfügen lassen. Das müssen nicht immer Wörter und Substantive oder Verben sein, die da etwas bezeichnen und Bedeutungen miteinander verknüpfen, nein, das lyrische Ich verwendet auch Töne („plopp plopp!“) und Onomatopoetika sowie Eigennamen, die den Gedichten noch einmal etwas Eigenes verleihen.

Der erste Abschnitt (von dreien) steht unter dem Motto „Bei den Wasserstädten“, zu Beginn taucht das lyrische Ich in das titelgebende Element Wasser ein, mit dessen Dahinfließen es sich befasst:

Unter der Wasserhaut knistert und knackt 

Tier der Stille 

Es herrscht wenn die Stille rauscht 

Gedanken 

wortführende Gedanken 

treiben Autobahnen zur Blüte

Bei Sarıçiçek geht es aber nicht um eine rein ästhetisierte Kontemplation zum Thema Wasser, er macht sich auch kritische Gedanken zur Gesellschaft. In „Sortiment“ schreibt das lyrische Ich etwa über „vielzellig pluripotente / Pecunia“, „Verantwortung messen am Kontostand“ oder „kannibalische Westenträger“.
Die in Sarıçiçeks Lyrik immer wiederkehrenden Verbindungen lassen ob ihrer Ungewöhnlichkeit aufhorchen und wenn man auch nicht so weit gehen möchte, von Oxymora zu sprechen, so muten sie doch mitunter surreal und zugleich äußerst kunstvoll an, ja mitunter sogar hinreißend, wenn zum Beispiel das lyrisch Ich im Gedicht „Wasserstädten“ schreibt:

Fäden ziehen vom Abgasgeheule 

und von Hochhäusern 

Fäden delfingepflügt blaugischtig 


Murmeln spielen mit dem Weiher 


Auf Halbinseln einen Kirchturm bauen 

und siedeln ringsherum 

wie süße Bajonette

Das Assoziative, Momentane, die Impressionen dominieren in der Lyrik von „Wasserstätten“. Vereinzelte Anglizismen aus der heutigen Alltagswelt sollen dem Text Aktualität verleihen und der modernen Technik in den Texten Rechnung tragen („Welten entrollen sich in einer App“). Die Anglizismen, die neben lateinischen Wörtern, Onomatopoetika und Eigennamen stehen, wirken allerdings bisweilen etwas deplatziert.
Die Gedichte Şafak Sarıçiçeks könnten auch im Deutschunterricht behandelt werden, denn der Autor könnte mit seinen zeitkritischen Texten auch junge Leute adressieren. Ein Beispiel hierfür stellt „Zu Fuß gehen“ dar:

schwierigste Angelegenheit am Tag 

Menschen begegnen 

schwer im Heuteschritt 

Grüßt man • grüßt nicht 

Wenn nicht • wohin der Blick 

 

Nach vorn • den Vögeln nach

Trägt Lächeln man 

tragen es zurück? 

Schmunzelt ohne Beschwer? 

Man.

Das „Man“ steht hier für die Gesellschaft, die mit dem lyrischen Ich kontrastiert, mit dem sich der Leser und die Leserin vergleichen oder identifizieren kann. Wem ist es nicht schon einmal passiert, dass man jemanden auf der Straße nicht grüßen wollte und doch musste, weil es ein Gebot der Höflichkeit war? Dabei bezeichnet das „man“ im Text immer zugleich Beobachter und Beobachteter selbst, Individuum und Teil einer sozialen Rolle, die reflektiert wird.

Ein Gedicht mit Lokalkolorit in dem Band ist „Osterode“: Darin geht es um die Stadt im Harz, wo „Monteure Waldarbeiter Holländer Dänen / am kakophonen Einsamkeitstisch“ hausieren und „harzen teeren giebeln erkern“. „Ein Bach rinnt die Schnurgrenze entlang / schnurrt weich / zwischen Industriescheinschwerfern und Steinbruchhalden“. Nur kurz darauf folgt ein Gedicht über einen „Ägäischen Hafen“. Offenkundig haben es dem Autor die vergessenen Orte angetan, die entweder in den Bergen oder am Wasser liegen müssen. Es sind die Wasser- und Windstätten, die Sarıçiçek faszinieren.

Das Kapitel „Fischfresser“ widmet sich ganz jenen vergessenen Menschen, die in der Gesellschaft oft zu kurz kommen. Sie möchte Sarıçiçek stärker ins Licht rücken. Da wären das Prasseln des Siedefetts, oder der Rotationsmitarbeiter, der sich durch seinen „schizophrene[n] Umriss“ auszeichnet und sich als Tintenfisch denkt. Da gibt es zudem den Verkäufer mit dem aufgesetzten Lächeln zwischen Kartons, Mindestlohn und Fisch, Teller und Remoulade, der am Ende in den Feierabend entlassen wird. Und zuletzt begegnen wir dem Spüler:

In Einöden überfluteter Betriebsböden 

stochert ein Kahn auf Arbeitsschuhen 

nach festem Grund 

 

vollbeladen mit zerfetzten Fischlaiben 

ganz oder teils geerntet ein Fleischfeld 

mit frisch gezapfter Diabetes

[…]

im Spülraum umgrenzt 

im Hausarrest in Innerlichkeit gegen 

und für das Diktat aus Kassen […]

Durch die Gedichte dieses Bandes über die Wasserstätten ziehen sich selbstverständlich Motive des Maritimen, des Meeres und Wassers, der Fische und Fischlaibe, die uns immer wieder in verschiedenen Aggregatzuständen, mal frisch, mal älter, über den lyrischen Weg laufen und so etwas wie einen roten Faden durch die ca. 30 Texte bilden. Tiere, Leib, das Körperliche – das ist für Sarıçiçek ein wichtiger Bestandteil seiner lyrischen Beobachtungen, das Sinnliche spielt in seiner Lyrik eine ebenso entscheidende Rolle wie ein Schizophrenes, das der Welt Entrückte:

Überläufer wechselwarm 

tänzelnder Fisch im Kittel 

Kitt so sehr Kitt 

kompartmentalisiert 

 

eifrig überlaufend 

zwischen Türen mollusk 

mein schizophrener Umriss 

 

hab mich als Tintenfisch gedacht 

als Tintenfisch 

camouflagier mich mit Umgebungsfarben […]

Alltägliche Beobachtungen werden in Sarıçiçeks Gedichte mit eingebunden, als verarbeite der Autor damit auch, was ihm tagtäglich widerfährt. Aber die Aktualität dieser Lyrik geht darüber hinaus und spiegelt sich in seinem Verfahren wider. Wir erleben in dieser Lyrik den Harz genauso wie Griechenland, seine Bewohner, die „einfachen Leute“ und die Dinge des Alltags, aber auch das Außergewöhnliche, das Entlegene, Vergessene und Entrückte, in einer splitterhaften Welt.
Manchmal fühlt man sich an den Impressionismus erinnert, an die Bilder eines Monat, Renoir oder Manet, die aus lauter Pinselstrichen und Punkten bestehen und sich aus einzelnen Eindrücken zusammensetzen. Da wir heute wieder am Beginn eines Jahrhunderts stehen, das von Krisen gebeutelt zu sein scheint, passt diese etwas fragmentierte und doch durchkomponierte Lyrik gut zur aktuellen Gefühlslage. Doch während im Impressionismus sich die einzelnen Punkte zu einem stimmungsvollen größeren Ganzen zusammensetzen, bleiben die visuellen und mentalen Eindrücke in diesem Band fragmenthaft, bilden Inseln von Imaginationen, nur verbunden durch die Bezüge zwischen den Gedichten des Lyrikbandes.

Florian Birnmeyer


 

 

 

Dienstag, 9. Januar 2024

Gespräch mit dem Schriftsteller Şafak Sarıçiçek

Poesie muss sich wieder lohnen: Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Şafak Sarıçiçek

Interview: Yelizaveta Landenberger, ND,
 
Frage:
 
Die Fischfresser-Zyklus-Gedichte in Ihrem neuen Lyrikband »Wasserstätten« gefallen mir besonders gut. Darin geht es um Massenproduktion von Fisch einerseits, Ausbeutung und Entfremdung der Arbeitenden, die mit dem Fisch hantieren, andererseits – wie Menschen in Gastronomieberufen gewissermaßen selbst zu Fisch werden. Aber wieso sind Wasser und Fische in Ihrer Lyrik so präsent?
 
Antwort S. Saricicek:
 
Die Wasserthematik zieht sich durch meine gesamte Lyrik. Fische können Verschiedenes symbolisieren: das Weibliche, das Kind, Verletzlichkeit, Unschuld, Naivität. Wasser hat dieses Verbindende und Fluide, es umgeht Hindernisse, findet seinen Weg. Gleichzeitig ist es das Verbindende im geografischen Kontext, bewegt sich zwischen Ländern, so wie ich. Und es gibt diese mystische Dimension: Wir können Wasser nicht richtig erfassen, gleichzeitig bestehen wir selbst zu einem erheblichen Teil daraus. Der Zyklus hat sich ergeben, weil ich selbst in der Gastronomie gearbeitet habe. Hier ist übrigens noch eine Brandnarbe davon an meinem Arm.

S. Saricicek, Foto: Yelizaveta Landenberger

Frage:
 
Finden Sie es frustrierend, dass das Lyriker-Dasein so schlecht bezahlt ist?
 
Antwort S. Saricicek:
 
Absolut. Wie wenig Lyrik wertgeschätzt wird. Oder allgemein: Dass schnell an der Kultur gespart wird, als ob sie Luxus wäre. Schriftsteller sind so wichtig, weil sie jenseits der Profit-Logik gesellschaftlichen Reichtum aufbewahren. Jeder Mensch hat das Potenzial, Lyrik zu rezipieren, aber man ist zu gehetzt. Deswegen beschäftigt sich hierzulande hauptsächlich eine akademisierte Bubble damit. Das muss nicht so sein: In der Türkei wird Lyrik mehr wertgeschätzt, da kann ein Bauer Gedichte von Ahmed Arif oder Nazim Hikmet vortragen, da hat Lyrik wirklich noch eine kollektive Funktion – auch vermeintlich schwierige Lyrik. Dass Lyrik in Deutschland so ein geringer Stellenwert zukommt, weist darauf hin, dass unsere Gesellschaft ins Konsumistische abrutscht. Die Lyrik, die immerhin noch breiter rezipiert wird, ist oft so trivial. Das hängt mit den Produktionsverhältnissen und der Aufmerksamkeitsökonomie unserer Gesellschaft zusammen. Und wenn Lyrik wertgeschätzt wird, dann auf technokratische Weise: Gedichtanalysen mit eindeutigen Deutungen. Damit bereitet man so vielen Generationen von Kindern Hass auf diese schöne Form – und man banalisiert sie.
 
 
Şafak Sarıçiçek (*1992 in Istanbul) ist ein in Heidelberg lebender deutschsprachiger Dichter mit Zaza-Wurzeln. Er studierte Jura in Heidelberg und Kopenhagen und absolviert aktuell sein Referendariat. Bislang veröffentlichte er sechs Lyrikbände. Zuletzt erschien im Herbst 2023 sein neuer Gedichtband »Wasserstätten«. 2023 erhielt er den Hanns-Meinke-Preis sowie ein Jahresstipendium für Literatur der Kunststiftung Baden-Württemberg.
 

Mittwoch, 13. Dezember 2023

Carmen Jaud und Salean A. Maiwald bei der GZL

 
Lyrikschaufenster  in der Lyrikbibliothek der 
Gesellschaft für zeitgenösssiche Lyrik (GZL), Leipzig.

Mit den beiden Bänden der Lyrik-Edition NEUN von  
Carmen Jaud und Salean A. Maiwald:

 

 


 

Mittwoch, 6. Dezember 2023

Advents-Aktion 2023 zu Edit Engelmanns "Die Maskenmacherin"

 
Edit Engelmanns "Die Maskenmacherin" (9 Euro) als Adventsaktion 
mit einem Gratis-Buch der Autorin, "Scherben vor Gericht".
 
 

Das Gesicht eines Menschen ist unverkennbar und einzigartig. Mimik, Fältchen, das Zwinkern in den Augen, das Lächeln des Mundes. Mit dem Nicht-Erkennen des Gesichts verliert auch der Mensch dieses Besondere, dieses Charakeristische, was ihn ausmacht. Wie wichtig die Gesichtszüge sind, jede einzelne Falte, jeder Schwung der Nase dazu beiträgt, ein Gesicht lebendig zu gestalten, lernt Marie schon in jungen Jahren, als Onkel Curtius sie im Handwerk des Wachsbossierens unterrichtet. 

Niemand konnte in diesen ersten Stunden ahnen, dass aus der kleinen Marie Großholtz dereinst die Maskenmacherin des Königs wird und sie am Hof von Versailles ein- und ausgeht. Aber auch die Gräuel der Revolution verschonen sie nicht. Ihre Kunst ist gefragt und wächserne Abbildungen von Köpfen finden vielfältigen Einsatz. Marie versteht ihr Handwerk und gründet ein Panoptikum in London, das sich zu einem Weltkonzern mausern wird.

Im 18. Jahrhundert kommt die kleine Marie mit ihrer Mutter nach Bern, die bei dem Arzt Philippe Curtius eine Stelle als Hausmädchen angenommen hat. Onkel Curtius wird das Mädchen ihn künftig nennen und bei ihm eine ganz ungewöhnliche Fähigkeit erlernen: die Wachsbildnerei. Sie studiert jeden einzelnen Gesichtszug, jeden Schwung in der Mimik ihrer Modelle und lässt sie hinter ihren Masken verschwinden, perfektioniert das Handwerk und bringt es bis zur Maskenmacherin des Königs. Bis die Unruhen der Französische Revolution ausbrechen, die auch Marie's Leben gefährden. Ihre Wachskunst ist weiter gefragt, doch wird sie die Gräuel überstehen, noch berühmter werden?

Madame Tussaud, Wachsfiguren

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