Verlag der Neun Reiche — Lyrik Edition NEUN — Lyrik — Prosa — Anthologie

„Wisse, daß jedwede Zahl nichts anderes ist als 9 oder ein Vielfaches davon, zuzüglich eines Darüberhinausgehenden. Wer das Darüberhinausgehende und den Multiplikator von Neun kennt, der kennt das Wesen und die Zahl in jeder Beziehung.“ --- Ibn Sina (lat. Avicenna, persischer Philosoph, Dichter, Arzt, Astronom, Alchemist, 980-1037)

Freitag, 2. Februar 2024

Lesung und Musik in Teltow am Donnerstag, 12.März

 

Dan K. Sigurd schreibt aus 3 Worten Ihr persönliches Gedicht. Jana Berwig, Gesang und Gitarre, verzaubert mit ihrer wunderschönen Stimme. Steffen Marciniak, Dichter, Verleger und Herausgeber, stell feine Poesie aus seiner Reihe "Lyrik der NEUN" vor. 

Am 12. März 2024 um 20 Uhr in der Reha Seehof, Teltow, Lichterfelder Allee 55

Freitag, 19. Januar 2024

Rezension "Prinzenverstecke" (S. Marciniak) bei Signaturen-Magazin

Rezension von Florian Birnmeyer im Magazin Signaturen zu Steffen Marciniaks Gedichtband Prinzenverstecke (Januar 2024):


Link:
 

Es gibt Gedichtbände, die bestechen durch ihre Komposition, durch ihre ausgearbeitete Struktur ebenso wie durch Sprache und Rhythmus. Zu diesen lyrischen Werken gehört Prinzenverstecke, ein schmaler Band aus dem Hause Lyrik Edition NEUN, dem man mehr zutrauen darf, als der bescheidene Umfang von 27 Gedichten zunächst vermuten lässt.

Steffen Marciniak begibt sich in den drei mal neun Gedichten, die jeweils einem inhaltlich bzw. formal strukturierenden Thema (PrinzenversteckeZiffermythenNordlauschen) untergeordnet sind, auf die Suche nach dem Verlorenen, dem versteckten Prinzen, der bukolischen Liebe, die er in mythischen Landschaften und nordischen Gefilden zu finden hofft.

Nicht Edelweiß noch Miere weisen den Weg
Zu einem arkadisch durchflößten Leben ⋅ für mich
Und dich ⋅ bis dann Basaltgesteine anheben:

 

Zu einer Steinblume  die ein Geländer bildet
Um neunundneunzig Stufen zu einer Pforte
Hinter der ich deine geheime Insel vermute.
 
(Steinblume)

Marciniaks Lyrik ist gerichtet auf die – nicht blaue, aber doch romantisch verklärte – Blume, die im ersten Teil des Bandes mal als Wüstenblume, dann wieder als Steinblume und schließlich als Meeres-, Schnee- oder auch als Feuerblume vorkommt. Das lyrische Ich durchlebt die verschiedenen Stadien der natürlichen Elemente und wechselt zwischen Utopie, Bukolik, Melancholie und Prinzenversteck, dem idealisierten und geliebten Du der Gedichte, hin und her.

Ich schreite voran und schreie nach dem Sinn
Dieser schroffen Wüste voll rauer Sedimente
Doch ich finde den See mit den rosa Flamingos.
 
(Salzblume)

Im zweiten Teil des Bandes gibt die Ziffernlogik von 1 bis 9 den Gedichten eine Struktur vor, dazu kommt eine mythologische Thematik, gerade so als sollte die leidenschaftliche Aussage der vorangegangenen neun Gedichte durch die neu gefundene Ordnung aufgewogen und ins dialektische Gegenteil verkehrt werden. Während sich Gedicht 1 dem ersten Menschen der Bibel, Adam, widmet, folgt mit dem zweiten Gedicht ein mythologisches Werk über die Dioskuren usw.

Mythologie und Nummernsymbolik verbinden sich bei Marciniak gekonnt, auch wenn dies manchmal wie ein in der neueren Lyrik ungewohntes Korsett wirkt. So begegnen wir im Gedicht Vier Ströme den vier Elementen, den vier Erzengeln und den vier Himmelsrichtungen genauso wie den vier Tageszeiten und Jahreszeiten:

Über dem Obelisken  der an den Himmel reicht
Ahne ich die Blitze aus Glanz der vier Thronengel
Michael  Uriel  Gabriel  Raphael. Am Weltentisch
Lenken sie meinen Blick in vier Sonnenrichtungen:

 

Afrika im Süden  am Nil  gehüllt in Vergangenheit
Der ersten Menschen  die hier aufgetaucht sind.

Wer vermutete hier den Quell des Entstehens? 


Marciniak schreibt eine formal sehr ausgeklügelte Lyrik, die mitunter ein wenig zu sehr auf die Gelehrsamkeit und die mythologische Erlesenheit setzt und darüber ins Prosaische hinübergleitet. Stark ist Marciniaks Dichtung dort, wo er Erfahrung, Gefühl und Mythologie, Sage, Märchen zu einem wirkkräftigen Ganzen verbindet:

Im Klingen erwacht aus dem Schlafe die Nacht 
Die Mondlibellensichel leuchtet den Flügelwesen
Ihren Weg. Wie Glühwürmchen im Pizzicatoschritt
Finden elfische Gäste sich zur Mittsommernacht ein.

Dies trifft vor allem auf den dritten Teil des Bandes zu, der nordische Sage mit Reise- und Lebenserfahrungen in Lettland, Litauen, Norwegen, Dänemark sowie klassischen Musikstücken kombiniert, die man als Ergänzung zu der Lektüre anhören kann (Genannt wird zu jedem der neun abschließenden Gedichte ein Komponist mit Musikstück). Marciniaks Gedichte in diesem Teil sind im Grunde poetische Kommentare zu der Musik, die diese in lyrischer Form weiterentwickeln, in einer raffinierten Verknüpfung verschiedener Kunstformen und Gattungen.

So zum Beispiel in Lettische Farben (Musikstück: „Regenbogen“ von Janis Ivanovs):

Siebenmal blitzt im Regenbogen der Harfenhall,
Die Schar der Geigen schiebt Nässewolken fort
Und letzte Tropfen malen den Farbenkreis.
 
Mal ruhig, mal düster, mal persönlich, dann wieder poetologisch zu lesen fährt Marciniak in diesem letzten Teil noch mal alle Geschütze auf und wechselt häufig die Tonart und Sprechweise. Persönlich wird es beispielsweise in Schwedische Nächte, wo die Dichotomie aus Utopie, Ideal, idealisierter Liebe und Traurigkeit und Melancholie wiederkehrt:

Traurigkeit schmelzt [sic!] meine Kraft  wenn andere
Spotten  weil ich süße Worte dir widme  wie
Auch den Engeln oder Epheben – Da trittst du
Auf meine Schwelle und lockst mich ins Freie.

Im letzten Gedicht des Bandes Ukrainische Gebete wird die Komposition von Valentin Silvestrov aus dem Jahr 2014 von Marciniak poetisch kommentiert, wobei das Gedicht durchaus politischer und kämpferischer hätte formuliert sein dürfen.

Ein Gebet den Verteidigern  denen mit jedem Ruf
Der Geige  eine Blume aus der Heimaterde wächst 
Mit weißen Blüten aus Schmerz. Über Dornen weht
Der Wind zum Traum  einer Rückkehr in die Freiheit.

Marciniaks Domäne ist jedoch nicht der Kampf, sondern das Individuum, die Sage, das Bukolisch-Gefühlvolle. Er ist ein mythologisch belesener und vorgebildeter Lyriker, der sich in der Utopie und im Altertum zuhause fühlt, auch wenn das in unseren Zeiten nicht überall Anklang findet.


 

Dienstag, 16. Januar 2024

Rezension zu Gabriel Wolkenfelds "Nebelatlas" von Klaus Anders auf "Lyrikkritik"

 
Rezension von Klaus Anders auf: 


Tartarin mit Stöpseln im Ohr

– Notizen zu Gabriel Wolkenfelds Gedichtband Nebelatlas (Ukrainisches Album) –
Dezember 2022, zehn Monate nach Putins „Blitzkrieg“ gegen die Ukraine, erschien im Verlag der 9 Reiche ein Band mit 25 Gedichten von Gabriel Wolkenfeld. “Mein Band ‚Nebelatlas (Ukrainisches Album)‘ mit 25 Gedichten zu Orten in der Ukraine – Begegnungen mit Land und Leuten, alltäglichen Beobachtungen, Ergebnis meiner jahrelangen Beschäftigung mit ukrainischen Künstlern und Künstlerinnen und Autoren und Autorinnen, Erinnerungen an meine Zeit in der Ukraine…“ schreibt der Autor auf seiner Website. Ein knappes Jahr später bekam ich diesen Band, der mich schon beim ersten Hineinlesen fesselte. Die Faszination hat auch nach dem vierten Lesen nicht nachgelassen.

Die im Zank entzweiten werden sich nicht mehr
vertragen, aber vielleicht einigen sie sich darauf,
dass sie eine Mutter haben.


Damit ist am Ende des ersten Gedichts (Kyjiw I) eine Hoffnung ausgedrückt. Ob sie realistisch ist? Vielleicht in fernerer Zeit mit einem anderen Russland und einer weiterhin freien Ukraine. In den folgenden Texten wird diese Hoffnung nicht mehr aufgegriffen, der Autor verkneift sich den Blick in die Zukunft.

An den Ständen auf dem Andreassteg werden
T-Shirts angeboten, mit Dill oder Dreizack bedruckt.
Besonders populär: ПТН ПНХ


(aus: Kyjiw II; Anmerkung des Rezensenten: ПТН ПНХ heißt übersetzt: “Putin, verpiss dich!“)

*

Etliche der Gedichte bestehen aus einer Abfolge von Bildern, Situationen, Reflexionen, die jeweils für sich stehen, nicht durch ein chronologisch oder logisch kittendes Narrativ verbunden sind. Dazwischen weißer Raum, Leere. Die Sprache knapp.

Sie mit der DNA einer Wundertüte, mir
war, als sprächen sie im Windschatten der
Armenischen Kathedrale das Schma Jisrael.
Chamäleon unter den Städten, Raufaserseele,
europäisches Fabrikat, Folklore als Zitat.
Blasse Dame, grüner Schnabel.

 
(aus: Lwiw II)

Lwiw, auch Lemberg geheißen, hatte 1931 eine ethnisch gemischte Bevölkerung, die zu 50% polnisch und zu 32% jüdisch war. Dazu kamen 16% Ukrainer und in geringer Anzahl Deutsche, Armenier u.a. Russen lebten damals dort nur 0,2%. Nach der Besetzung durch Nazideutschland, dem Krieg und der Übernahme durch die Sowjetunion lebten 1959 in Lwiw noch 4 % Polen und 6% Juden, jedoch 60% Ukrainer und 27% Russen. „Bevölkerungsaustausch“, von den Nazis begonnen, von der Sowjetunion vollendet. 2001 lag der Anteil der Juden nur noch bei 0,3 %, der der Polen bei 0,9%.

*
Die uralte Stadt Jalta, von der die Mutter Kyjiw im ersten Gedicht augenzwinkernd sagt: mein Mädchen Jalta, die Stadt, die mitsamt der Krim 2014 von Russland annektiert, „heim ins Reich“ geholt wurde, weil sie nach Putins Worten russisch sei, wurde vor etwa 2600 Jahren von Griechen gegründet, fiel später u.a. an Byzanz, an Genua, an das Osmanischen Reich und – für weniger als ein Zehntel der Dauer ihrer Geschichte – an Russland.

Strand, der nicht Strand sein darf. Das Gebirge den
Göttern entwendet, Wolken in Umbra, Pinien,
kobaltblaue Zypressen, Palmen.
(…)
Tartarin mit Stöpseln im Ohr. Sagt, sie
wolle nichts von wissen.
Von Rentnern okkupierte Jahrzehnte, Badende ohne Untertitel. Gesagt wird nur, was gedruckt zum Nachsprechen vorliegt.
(…)
Fürchten muss man sich von den Übergriffen der
eigenen Geschichte. Die Herren Zaren mit ihrer
Vorliebe fürs Haben, Großmannsmut der kleinen
Geister.
Halte dich an die Marktweiber. Die tragen
Gold im Mund.

 
(aus: Jalta)

*
Knappheit der Sprache beflügelt meine Fantasie. Mir war oft im Nachklang des Lesens, als hätte ich eine zeitlich und räumlich ausladende Darstellung gesehen, lange Einstellungen mit teils verlangsamter Bewegung, die mit abrupten Schnitten enden und einer neuen Bildkonstellation beginnen.
*
Männer in Fledermausgarderobe fassen sich unter.
Frauen aus Seide und Leinen verteilen, mit
aufgemalten Gesichtern, Glückwünsche.
Die Braut? Verschwindet unter dem Schleier,
der ihr zur Heimat wird. Der Bräutigam?
Tanzt ausgelassen in seinem Totenkleid:
babylonisches Repertoire.

 
(aus: ‚Odessa II‘: eine jüdische Hochzeit)

Das von der Braut für den Bräutigam hergestellte Totenhemd bei der Hochzeit zu tragen, unter der Oberbekleidung, ist ein Brauch, der sowohl im orthodoxen Judentum als auch im Christentum über lange Zeit in manchen Regionen üblich war.

*

Anspielungen in den Gedichten zahlreich. Einigen konnte ich auf die Schliche kommen, andere blieben mir verschlossen oder ich konnte sie nicht zuordnen. Aber ist das so wichtig? Muss man alles „verstehen“? Ist die Dunkelheit eines Gedichts oder von Versen eines Gedichts nicht erst einmal hinzunehmen, in sie hineinzulauschen, anstatt sie in einem übergriffigen „Aufklärungs“impuls zu „entschleiern“ – was doch mitunter nichts anderes bedeutet, als dass dem Gedicht eine bestimmte Sicht übergestülpt wird und damit eine Beschränkung? Werden nicht manchmal sogar Verse, die auf den ersten Blick ganz klar erscheinen, bei längerer Be- trachtung immer dunkler, fremder, unzugänglicher? Der österreichische Psychiater Christian Scharfetter (1936 – 2012) empfahl einem jungen Assistenzarzt für den Umgang mit unzugänglichen Patienten, dass Zurückhaltung angesagt sei. Nicht im Verstehen-Wollen des Patienten liege der Schlüssel, sondern im gemeinsamen Erleben des Befremdlichen, wozu eine gewisse eigene Selbstentfremdung nötig sei. Erst dann könne – gemäss jenem alten griechischen Satz – Gleiches durch Gleiches erkannt werden, und sei es nur in wenigen Punkten Vergleichbares.

*

Der Band schließt mit Huldigungen an die drei „gealterten Empfangsdamen“ eines Studenwohnheims in Sumy. Die erste trägt (Zufall?) den Namen einer us-amerikanischen Dragqueen: Jekaterina Petriwna.

Mäusekönigin aus einer Zeit vor den Revolutionen,
Patronin der Pädagogen, am Stadtrand von
Sumy steht dein Domizil, Kaleidoskop aus
Kakerlaken, Sepiafassade, rostbrauner Rhabarber.


Dann Lidija Mykolajiwna:

Das Luftholen einer Nachtigall zwischen
zwei Tönen, der Flügelschlag eines Falters,
solcher Art sind deine Gesten.
Nur wenige Frauen wissen so subtil
Katastrophen auszulösen.
Ein Lächeln, erinnerst du dich, unvorsichtig
hingeworfen, der junge Mann lief in die Kutsche.
(…)

Du sitzt einfach nur da, kämmst dir das Haar.
Du weißt, wie es ist, einmal schön
gewesen zu sein.


Und zuletzt Sofija Romaniwna:

Rotflammendes Haar, Goldzahn, liebste Baba Jaga,
ohne deine Blitze kein Beben, dein Lachen
nie ohne Donner, stürzt die Welt ins Chaos.
Augen aus Asche, eine Stimme, als träfen sich
Stiefel und Kiesel. Wenn ich mich mal verspäte,
verwandle mich nicht in einen Hahn…


*

Ebenso wichtig wie das Gesagte und Dargestellte ist das Nicht-Gesagte, das Unsichtbare, das immerzu im Raum steht: Der Frieden ist nur eine flüchtige Phase zwischen mörderischen Ereignissen. Dem letzten zurückliegenden Krieg folgte der jetzige, dem vergangenen Pogrom wird das künftige folgen.
Viele der in dem Band genannten Städte wiesen früher einen hohen Anteil von Juden in der Bevölkerung aus. Lwiw, Poltawa, Iwano-Frankiwsk, Kamjanez-Podilskyj, Hluchiw: In der Vergangenheit Pogrome und Massaker, wohin man schaut. Die Vernichtung der mittelosteuropäisch-jiddischen Sprachwelt. Hierüber schweigt der Autor weitgehend, schreibt über das, was er, als er dort war vor einigen Jahren war, erlebte und beobachtete, öfter deutet er das Vergangene an.

Karpatenspross im Vorgebirge, galizische Schöpfung.
Erzogen nach Vorbild der österreichischen Monarchie,
Ziegeldächer in Rostfarbe, Kirchen und Kathedralen.
Ukrainisch verköstigt, köstliches jiddisches
Wort, sowjetische Norm.
Du bist der Beweis, dass ein Pass nichts ist
gegen die Raublust der Diktatoren, Buchstaben,
Zahlen, geschrieben mit Asche auf Asche.

 
(aus: Iwano-Frankiwsk)

*

Nur zuweilen tritt der gegenwärtige Krieg voll ins Licht:

Beidseitig gelähmt sind die Träume, abgeschnitten
die Fluchtwege. Der Tod kommt per Anhalter. Von
den Sevanchuks nimmt er die jüngste Tochter mit
und die Alte, die vorgestern noch am Kiosk stand.
In unserem Haus halten alle Stellung: Oma bindet
mit dem Kleinen Schleifen in Tarnfarben um die
Schlaufen des Maschendrahtzauns.
Wir mischen, wenn Sascha schläft, Explosives
in Flaschen. An den Schrank darf er nicht ran. Er weiß:
Dort sind die Geschenke für die Befreier.


(aus: Kriegstagebuch II)

*

Das Gedicht ‚Tscherniwizi II‘ ist der 18-jährig in einem Arbeitslager der SS an Fleckfieber verstorbenen jüdischen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger gewidmet:

In tiefster Finsternis erfand sie Farben.
Sie nähte sich ein dünnes Kleid aus Spinngeweb,
Moos und Farnen. Den kurzen Weg nahm sie sich zum
Geliebten und an den Freund schrieb sie: Geh mir
nicht nach, mein Gehen ist Vergehen.


*

Bemerkenswert an den Texten dieses Bandes finde ich ihre Diskretion. In einer Zeit, in der es alltäglich geworden ist, von der eigenen Herkunft zu schreiben, hält der Dichter sich zurück. Er plaudert, klagt und hadert nicht, reißt sich die Brust nicht auf, wirft nicht mit zeitgeistgesättigten Stichworten um sich und schafft so, mittels der sehr eigenen Sprachtracht und Musik der Gedichte, eine Distanz. Erst solche Distanz „trifft ins Herz“, führt (für mich – andere mögen es anders wahrnehmen) zu der Nähe, die das vermeintlich Unmittelbare einer Aussage, die sich um Stil, Form und dgl. angeblich nicht kümmert und der es nur um „Inhalt“, um Authentizität geht, im Gedicht letztlich nicht erreichen kann.
*
In ‚Babyn Jar‘ betrachten wir eine Sonntagsidylle: Sommernachmittag bei Picknick und Grill nahe der Schlucht. Nur ein Halbsatz deutet an, was hier geschah, dass Ende September 1941 in dieser Schlucht bei Kyiv innerhalb von 48 Stunden über 33.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder hingemetzelt wurden: Er weiß nichts von Juden…
 
Es ist hier nicht nur die oft beklagte Erinnerungslosigkeit späterer Generationen. Im Gegenteil: diejenigen, die den Krieg erlebten, verdängen und vergessen ihn, kaum vorbei, trotz aller Gedenkfeiern und Mahnungen geradezu leidenschaftlich. Ich denke zurück an die 50er und frühen 60er Jahre: Trotz des geräuschvollen Wiederaufbaus hörte man das Gras wachsen und war stets in Angst vor einem nahe bevorstehenden 3. Weltkrieg, gleichzeitig aber verhielten sich die Leute (zumindest außerhalb der Familien), als hätte es die Nazi-Diktatur und den Krieg nicht gegeben. Mich erstaunt und erinnert die Selbstverständlichkeit, mit der das nachwachsende Leben die Höllen der Vergangenheit überwuchert, an den Satz Kafkas über den Panther am Schluss der Erzählung ‚Ein Hungerkünstler‘: „Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht einmal die Freiheit schien er zu vermissen; dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiß schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, dass es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten.“

Ein Junge verkauft aus seinem Wagen heraus
Coffee-To-Go. Die Pilger schickt er in keine
Richtung.
Er weiß nichts von Juden, weiß nicht, dass die
Stadt ihre Toten eingemeindet hat.
Aus den Gräben dröhnt Pop. Familienväter
stehen am Grill, wenden, sobald es schön
knusprig ist, das Fleisch.
Ihre Söhne jagen Bällen hinterher. All ihre
Kraft legen sie in den Schuss.


Einige Jahrzehnte zuvor sagte die Zeugin Dina Pronitschewa aus: „Eine nackte Mutter verbrachte ihre letzten Augenblicke damit, ihrem Säugling die Brust zu geben. Als das Baby lebendig in die Schlucht geworfen wurde, sprang sie hinterher.“
 
Klaus Anders

Nebelatlas. Ukrainisches Album. Gedichte von Gabriel Wolkenfeld, Gabriel, Verlag der 9 Reiche, Berlin 2022

 

 

 

Montag, 15. Januar 2024

Reiner Narr in der "Frankenpost"

 
Am 7. November 2023 in der "Frankenpost" ein große Seite mit einem Bericht zu einer Veranstaltung und Gespräch von und mit Reiner Narr zu seinem Gedichtband Rabenhaupt:
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 



Artikel von Nico Schwappacher:
 
Der Verse aus Träumen schöpft.
Der in Issigau aufgewachsene Dichter Reiner Narr lässt sinnliche Wortbilder aus seinem Unterbewusstsein sprießen. In Hof könnte sich mancher an ihn erinnern: als jungen Poeten im „Grufti"- Look HOF/ISSIGAU/BERLIN.
Nach dem letzten Wort zoomt die Kamera direkt auf das Auge. Hochtoupierte Haare, weiß geschminktes Gesicht, schwarzer Kajal - ein Anhänger der Gothic-Szene. Vielleicht erinnert sich mancher Hofer an die Szene. An jenem Tag, an dem er seine düsteren Worte am Sonntagnachmittag im ZDF verlesen darf, feiert der Poet seinen 16. Geburtstag. Die Stadt Hof hatte Reiner Narr entsandt, um sie im „Städteturnier" zu vertreten, in dem einst die Kulturszenen verschiedener Städte vor laufenden Kameras gegeneinander antraten.
Immerhin hatte unsere Zeitung den in Issigau aufgewachsenen Poeten bereits im Alter von zwölf Jahren als literarisches Wunderkind gefeiert. Eine Freundin der Mutter hatte unserer Zeitung Gedichte des Knaben zukommen lassen - was die Aufmerksamkeit der Hofer Kulturszene auf ihn lenkte.
„Anders kann ich's nicht sagen",
so erklärte er damals, noch als schüchterner Junge, seinen Drang zur Feder. Vier Jahre später - da fällt das lange schwarze Haar bereits auf einer Kopfseite schulterlang herab - gibt er verheißungsvoller zu Protokoll:
„Die Reise geht weiter immer voran, ich darf nicht aufgeben und mich der Dunkelheit überlassen."
Aus dieser Motivation erwuchs wohl auch der erste Gedichtband, den der inzwischen 48-Jährige in diesem Jahr vorgelegt hat:
„Rabenhaupt" heißt das Büchlein, auf dessen 32 Seiten Narr seine Leser durch atmosphärisch dicht gewobene Traumbilder führt.
„Wir trinken Zwielicht aus kleinen Tassen und wiegen uns sanft mit dem Baum, der den Mond trägt in seinem Haar.“
„Rabenhaupt" - in der Alchemie steht dieser Begriff für den schwarzen Niederschlag auf Quecksilber, der bei der Herstellung von Quecksilberoxid entsteht. Auf dem Weg hin zum Hellen, zum Stein der Weisen, braucht es also zunächst einen Status des Dunklen, des Unreinen.
Aus der Dunkelheit destilliert ist denn auch Narrs Buch-Debüt:
Eine Krebsdiagnose im Jahr 2020 war es, die in ihm den Gedanken, das eigene Schreiben wieder ernsthafter zu betreiben, zur Frucht gedeihen ließ.
„Auf dem Heimweg zähle ich die Sterne, die verhalten und kühl durch die schwarze Wolkendecke funkeln.
Bei jedem Neuen denke ich:
es gibt keinen Tod,
es gibt keinen Tod,
es gibt ihn einfach nicht."
Am 21. November stellt Narr seinen Band bei einer Lyrik-Performance in der Stadtbücherei Hof vor. Atmosphärische Musik wird dabei die Worte untermalen. Der „Grufti" aus der Buchhandlung. Doch noch einmal ein Zeitsprung, zurück in die frühen 1990er-Jahre: Reiner Narr ist Teenager - und gehört in Issigau nicht zu den coolen Kids. Dichter und schwul - und
dann noch „Grufti", wie damals viele die Anhänger der Schwarzen Szene mit einem Unterton von Unverständnis und Abwertung titulierten.
Der Weg zur Schule durchs Dorf sei ein Spießrutenlauf gewesen: „Die Leute dachten: Der schläft im Sarg, spritzt Hasch und hat Aids", erzählt er.
Schon deshalb hält sich Narr damals lieber in Hof auf, also in der Stadt, wo es in vielen Köpfen ein wenig toleranter zugeht. Dort macht er eine Ausbildung zum Buchhändler, im damaligen Gondrom in der Altstadt. Wegen seines extravaganten Äußeren sei er dort schnell bekannt gewesen „wie ein bunter Hund". „Und wegen der Dichterei hatte ich auch eine gewisse Narrenfreiheit", merkt er an. Gleichgesinnte kommen in den Laden, um zu plauschen - da seien auch Freundschaften entstanden.
„Ich hab mein Segel gehisst auf den Wassern der Zeit.
Der Wind, der mich antreibt, ist die Liebe."
In Dialog mit dem Unterbewusstsein
1995 zieht Reiner Narr nach Berlin, wo er bis heute lebt. 17 Jahre lang arbeitete er dort als Buchhändler in einem Buchladen, dessen Sortiment sich an Schwule, Lesben und andere Angehörige der LGBTQ+-Community richtet. Auch ein Studium unter anderem der Religionswissenschaften absolviert er in der Bundeshauptstadt, nicht zuletzt aufgrund
seiner in der durchaus bildungsbeflissenen Goth-Subkultur gewachsenen Faszination
für das Numinose und seine vielfältigen Manifestationsformen in der Kunst.
Texte zu schreiben wie Robert Smith, Frontmann der englischen Post-Punk-Legende The Cure, habe er sich damals zum Ziel gesetzt, nachdem eine Freundin der Mutter ihn im Teenager-Alter mit Schallplatten versorgt hatte.
Der Goth-Szene als solcher fühlt sich Narr heute nicht mehr zu-gehörig, wenngleich eine Vorliebe für die verschroben-surrealistischen
Wort- und Klanggebilde in ihrem Umfeld goutierter Avantgarde-Gruppen wie Current 93, The Legendary Pink Dots und Coil noch immer aus seinen Zeilen hervorblitzt.
Spiritualität und das Okkulte - für den Dichter sind sie nicht bloß schicke ästhetische Konzepte.
Denn seine Worte entspringen jenem Ort, den der moderne Mensch so oft als unheimlich zu verkennen pflegt, weil er sich den Imperativen von Kontrolle und direkter Nutzbarmachung, den Bedürfnissen und Erwägungen des Egos entzieht: dem Unterbewusstsein.
Worte dafür zu finden, was seine Lyrik eigentlich ist, dazu nötigte Narr ausgerechnet - ganz profan - ein anderer Patient bei einer Reha, auf die der Poet eigentlich gar keine Lust hatte, „weil ich dachte, da sind nur ältere Männer mit Prostataproblemen".
Was wir bewusst wahrnehmen, „das Wachbewusstsein", erklärte er ihm, sei nur wie die Spitze eines Eisbergs. Der Rest befinde sich unter Wasser. Nun stelle man sich den Eisberg als eigenständiges Wesen vor, das versucht, über Eingebungen und Träume mit uns zu kommunizieren. „Wenn es diesen Dialog einfängt, ist es für mich ein perfektes Gedicht", betont Reiner Narr.
„Doch nun hab ich mich erinnert, dass ich träume, und nicht nur einen Traum, sondern sehr viele."
Lyrik ist heute Nische
Dass Lyrik, noch dazu düstere, die sich einem unmittelbaren Verständnis entzieht, heute nur in der Nische existieren kann, weiß Narr Nur wenige Hundert Exemplare gibt es von seinem Gedichtband - ausverkauft sind sie längst nicht. Ein schier endloses Angebot an Belletristik läuft den zu kleinerer Form geschliffenen Juwelen der Wortkunst den Rang ab. Auch bei Lesungen seien die Reaktionen oft unvorhersehbar, reichten von Unverständnis über Gleichgültigkeit bis zu Begeis terung. Beim Poetry Slam, jener modernen Form des Dichterwettstreits, bei dem Wort-künstler in lockerem Rahmen vor Publikum gegeneinander antreten, habe er keine Chance, findet Narr. „Dafür muss man entweder politisch sein oder lustig“
Sein bisher dankbarstes Publikum habe er jüngst in einem Kreis von Bildungsbürgern deutlich gesetzten Alters gefunden. Warum?
„Vielleicht, weil die näher am Tod sind", mutmaßt der Künstler - nicht ohne ein Schmunzeln. Er sehnt sich nach Tiefe. Ob er sich eine Wiederverzauberung der Welt wünschen würde, wie sie einst die Romantiker forderten? Er bejaht.
Der wild wuchernde Materialismus der modernen Welt - für ihn ist er auch Symptom ausbleibender Innenschau. Vielleicht liegt im Traum ja der Schlüssel zu einer besseren Realität? Vielleicht ist der Traum ja das Echte selbst?
„Du musst nur in die Stille lauschen, dann erblüht die Sprache der Vögel in der Klaviatur des Lichts, das sich in den geschliffenen Steinen die auf deinem Sims liegen, bricht.
Dies ist ein Abgesang auf die Welt, die bare Münzen für bare Münze hält statt für die Knechtschaft der schwarzen, machtglitzernden Schlange“
Gut zu wissen:
Die Lyrik-Performance in der Stadtbücherei Hof beginnt am 21. November, einem Dienstag, um 20 Uhr. Reiner Narr ist dabei nicht alleine: Er hat die bekannte Künstlerin Luci van Org dabei. Mit ihr verbindet den Dichter - künstlerisch wie privat - eine Freundschaft.
Bekannt wurde sie in den 1990er-Jahren als Frontfrau des Duos Lucilectric, das den Superhit „Mädchen" (Keine Widerrede, Mann, weil ich ja sowieso gewinn, weil ich ein Mä-ä-a-ädchen bin!") landete. Mit ihrer neuen Band Lucina Soteira - deren mystisch-psychedelischer, eher melancholischer Rocksound mit Lucilectric nichts mehr gemein hat - veröffentlicht sie in diesem Herbst ein neues Album. Zu jedem der Songs hat Narr - frei assoziiert - ein Gedicht geschrieben.
Und so kann der Dichter denn auch selter lokalisieren, wo seine Ideen herkommen. Es fängt immer an mit einem flüchtigen Gefühl oder einem Bild im Kopf", erklärt er. Dann sind da zwei, drei Wörter, eine erste Zeile, ein Satz." Davon ausgehend baue er das Grundgerüst, an dem er feile, so lange, bis jede Silbe auf gewünschte Weise mitschwimmt im Strom der Worte.














































 

Sonntag, 14. Januar 2024

Rezension zu Safak Saricicek auf "Lyrikkritik"

Eine neue Rezension ist auf der Online-Seite von Lyrikkritik erschienen.
Florian Birnmeyer rezensiert Wasserstätten von Safak Saricicek:
 
 
Webseite: Lyrikkritik
 

„Wasserstätten“ von Safak Sarıçiçek

Der Lyriker und Jurist Şafak Sarıçiçek hat seit 2017 bereits sechs Gedichtbände bei Lyrikverlagen wie dem Elif Verlag, der edition offenes feld und dem Verlag Brot und Kunst veröffentlicht, „Wasserstätten“ ist sein sechster Titel, der in der Lyrik Edition Neun erschienen ist. Das Buch ist eine unverhohlene Hymne an das Fließen des Wassers, aber auch Kritik an Kapitalismus und Gesellschaft fließen in seine Dichtung mit ein.

Die Bände der Lyrik Edition Neun enthalten stets einen Linolschnitt des Autors und zwei weitere Linolschnitte, die vom Dresdner Grafiker Steffen Büchner stammen. Das Werk enthält neben diesen optisch ansprechenden Kunstwerken 27 Gedichte, die bei Sarıçiçek mal kürzer, mal mittellang ausfallen. Langgedichte bilden die Ausnahme. Die Lyrik von „Wasserstätten“ folgt auch ohne Reim einem Rhythmus, verfügt über etwas Eingängiges, etwas, das den Leser und die Leserin in den Bann zieht und dazu führt, dass man nicht aufhören möchte, sich mit diesem schmalen Band zu befassen.

Safak Saricicek bei Lesung in Osterode 2023
Şafak Sarıçiçeks Gedichte bestechen durch ihre splitterhafte Zusammensetzung aus auf den ersten Blick ungewohnten Elementen, die in neue Verbindungen gebracht werden. Die Kombinationen der Wörter nehmen sich dabei aus wie mosaikhafte Versatzstücke, die sich jeweils zu einem kunstvollen Bild zusammenfügen lassen. Das müssen nicht immer Wörter und Substantive oder Verben sein, die da etwas bezeichnen und Bedeutungen miteinander verknüpfen, nein, das lyrische Ich verwendet auch Töne („plopp plopp!“) und Onomatopoetika sowie Eigennamen, die den Gedichten noch einmal etwas Eigenes verleihen.

Der erste Abschnitt (von dreien) steht unter dem Motto „Bei den Wasserstädten“, zu Beginn taucht das lyrische Ich in das titelgebende Element Wasser ein, mit dessen Dahinfließen es sich befasst:

Unter der Wasserhaut knistert und knackt 

Tier der Stille 

Es herrscht wenn die Stille rauscht 

Gedanken 

wortführende Gedanken 

treiben Autobahnen zur Blüte

Bei Sarıçiçek geht es aber nicht um eine rein ästhetisierte Kontemplation zum Thema Wasser, er macht sich auch kritische Gedanken zur Gesellschaft. In „Sortiment“ schreibt das lyrische Ich etwa über „vielzellig pluripotente / Pecunia“, „Verantwortung messen am Kontostand“ oder „kannibalische Westenträger“.
Die in Sarıçiçeks Lyrik immer wiederkehrenden Verbindungen lassen ob ihrer Ungewöhnlichkeit aufhorchen und wenn man auch nicht so weit gehen möchte, von Oxymora zu sprechen, so muten sie doch mitunter surreal und zugleich äußerst kunstvoll an, ja mitunter sogar hinreißend, wenn zum Beispiel das lyrisch Ich im Gedicht „Wasserstädten“ schreibt:

Fäden ziehen vom Abgasgeheule 

und von Hochhäusern 

Fäden delfingepflügt blaugischtig 


Murmeln spielen mit dem Weiher 


Auf Halbinseln einen Kirchturm bauen 

und siedeln ringsherum 

wie süße Bajonette

Das Assoziative, Momentane, die Impressionen dominieren in der Lyrik von „Wasserstätten“. Vereinzelte Anglizismen aus der heutigen Alltagswelt sollen dem Text Aktualität verleihen und der modernen Technik in den Texten Rechnung tragen („Welten entrollen sich in einer App“). Die Anglizismen, die neben lateinischen Wörtern, Onomatopoetika und Eigennamen stehen, wirken allerdings bisweilen etwas deplatziert.
Die Gedichte Şafak Sarıçiçeks könnten auch im Deutschunterricht behandelt werden, denn der Autor könnte mit seinen zeitkritischen Texten auch junge Leute adressieren. Ein Beispiel hierfür stellt „Zu Fuß gehen“ dar:

schwierigste Angelegenheit am Tag 

Menschen begegnen 

schwer im Heuteschritt 

Grüßt man • grüßt nicht 

Wenn nicht • wohin der Blick 

 

Nach vorn • den Vögeln nach

Trägt Lächeln man 

tragen es zurück? 

Schmunzelt ohne Beschwer? 

Man.

Das „Man“ steht hier für die Gesellschaft, die mit dem lyrischen Ich kontrastiert, mit dem sich der Leser und die Leserin vergleichen oder identifizieren kann. Wem ist es nicht schon einmal passiert, dass man jemanden auf der Straße nicht grüßen wollte und doch musste, weil es ein Gebot der Höflichkeit war? Dabei bezeichnet das „man“ im Text immer zugleich Beobachter und Beobachteter selbst, Individuum und Teil einer sozialen Rolle, die reflektiert wird.

Ein Gedicht mit Lokalkolorit in dem Band ist „Osterode“: Darin geht es um die Stadt im Harz, wo „Monteure Waldarbeiter Holländer Dänen / am kakophonen Einsamkeitstisch“ hausieren und „harzen teeren giebeln erkern“. „Ein Bach rinnt die Schnurgrenze entlang / schnurrt weich / zwischen Industriescheinschwerfern und Steinbruchhalden“. Nur kurz darauf folgt ein Gedicht über einen „Ägäischen Hafen“. Offenkundig haben es dem Autor die vergessenen Orte angetan, die entweder in den Bergen oder am Wasser liegen müssen. Es sind die Wasser- und Windstätten, die Sarıçiçek faszinieren.

Das Kapitel „Fischfresser“ widmet sich ganz jenen vergessenen Menschen, die in der Gesellschaft oft zu kurz kommen. Sie möchte Sarıçiçek stärker ins Licht rücken. Da wären das Prasseln des Siedefetts, oder der Rotationsmitarbeiter, der sich durch seinen „schizophrene[n] Umriss“ auszeichnet und sich als Tintenfisch denkt. Da gibt es zudem den Verkäufer mit dem aufgesetzten Lächeln zwischen Kartons, Mindestlohn und Fisch, Teller und Remoulade, der am Ende in den Feierabend entlassen wird. Und zuletzt begegnen wir dem Spüler:

In Einöden überfluteter Betriebsböden 

stochert ein Kahn auf Arbeitsschuhen 

nach festem Grund 

 

vollbeladen mit zerfetzten Fischlaiben 

ganz oder teils geerntet ein Fleischfeld 

mit frisch gezapfter Diabetes

[…]

im Spülraum umgrenzt 

im Hausarrest in Innerlichkeit gegen 

und für das Diktat aus Kassen […]

Durch die Gedichte dieses Bandes über die Wasserstätten ziehen sich selbstverständlich Motive des Maritimen, des Meeres und Wassers, der Fische und Fischlaibe, die uns immer wieder in verschiedenen Aggregatzuständen, mal frisch, mal älter, über den lyrischen Weg laufen und so etwas wie einen roten Faden durch die ca. 30 Texte bilden. Tiere, Leib, das Körperliche – das ist für Sarıçiçek ein wichtiger Bestandteil seiner lyrischen Beobachtungen, das Sinnliche spielt in seiner Lyrik eine ebenso entscheidende Rolle wie ein Schizophrenes, das der Welt Entrückte:

Überläufer wechselwarm 

tänzelnder Fisch im Kittel 

Kitt so sehr Kitt 

kompartmentalisiert 

 

eifrig überlaufend 

zwischen Türen mollusk 

mein schizophrener Umriss 

 

hab mich als Tintenfisch gedacht 

als Tintenfisch 

camouflagier mich mit Umgebungsfarben […]

Alltägliche Beobachtungen werden in Sarıçiçeks Gedichte mit eingebunden, als verarbeite der Autor damit auch, was ihm tagtäglich widerfährt. Aber die Aktualität dieser Lyrik geht darüber hinaus und spiegelt sich in seinem Verfahren wider. Wir erleben in dieser Lyrik den Harz genauso wie Griechenland, seine Bewohner, die „einfachen Leute“ und die Dinge des Alltags, aber auch das Außergewöhnliche, das Entlegene, Vergessene und Entrückte, in einer splitterhaften Welt.
Manchmal fühlt man sich an den Impressionismus erinnert, an die Bilder eines Monat, Renoir oder Manet, die aus lauter Pinselstrichen und Punkten bestehen und sich aus einzelnen Eindrücken zusammensetzen. Da wir heute wieder am Beginn eines Jahrhunderts stehen, das von Krisen gebeutelt zu sein scheint, passt diese etwas fragmentierte und doch durchkomponierte Lyrik gut zur aktuellen Gefühlslage. Doch während im Impressionismus sich die einzelnen Punkte zu einem stimmungsvollen größeren Ganzen zusammensetzen, bleiben die visuellen und mentalen Eindrücke in diesem Band fragmenthaft, bilden Inseln von Imaginationen, nur verbunden durch die Bezüge zwischen den Gedichten des Lyrikbandes.

Florian Birnmeyer


 

 

 

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