Verlag der Neun Reiche — Lyrik Edition NEUN — Lyrik — Prosa — Anthologie

„Wisse, daß jedwede Zahl nichts anderes ist als 9 oder ein Vielfaches davon, zuzüglich eines Darüberhinausgehenden. Wer das Darüberhinausgehende und den Multiplikator von Neun kennt, der kennt das Wesen und die Zahl in jeder Beziehung.“ --- Ibn Sina (lat. Avicenna, persischer Philosoph, Dichter, Arzt, Astronom, Alchemist, 980-1037)

Donnerstag, 29. Februar 2024

"Literatur im Quadrat", eine neue Buchreihe für Prosa und Lyrik

 
Wolfgang Fehses "Moritaten und anderen Gesänge" mit Illustrationen von Eva-Maria Nerling eröffnen eine neue Buchreihe im Verlag:  "Literatur im Quadrat". Sie soll neben Lyrik auch Aphorismen und Kurzprosa vorstellen.
 
Wolfgang Fehse: Moritaten und andere Gesänge
 
Kennzeichen der Reihe ist die Einbeziehung von Kurzprosa zum Lyrikschwerpunkt in der Reihe Lyrik-Edition NEUN". Außerdem wird es Illustrationen verschiedener Künstler geben. Die Bände sollen als Hardcover erscheinen.
 
Weitere Bände in "Literatur im Quadrat" sind für 2024 geplant:
 
Band 2: mit Hanns-Meinke-Preisträger 2022, Patrick Hattenberg mit Kurzprosa und Lyrik, Illustrationen von Eva-Maria Nerling.
Band 3: mit Carmen Jaud, Ulrich-Grasnick-Preisträger 2022 mit Lyrik und Grafiken der Autorin
Band 4: mit Hanns-Meinke-Preisträger 2019, Max Drushinin mit Aphorismen.
Band 5: Irma de Groot mit einem Lyrikband in drei Sprachen, Deutsch, Griechisch (Thanasis Triantafyllou) und Englisch (Mitch Cohen) mit Illustrationen der Autorin.
 
 

Mittwoch, 28. Februar 2024

Jetzt neu: Lyrik-Edition NEUN, Band 22,25,26

 
Neuerscheinungen
 
Drei  neue Bände sind in der Lyrik-Edition NEUN in den ersten beiden Monaten des Jahres 2024 erschienen:

Band 22: Mariska von Waldstetten : Salzchroniken


Band 25: Florian Birnmeyer: Storchenstolz


Band 26: Giorgis Fotopoulos: Seeseele



Freitag, 2. Februar 2024

Lesung und Musik in Teltow am Donnerstag, 12.März

 

Dan K. Sigurd schreibt aus 3 Worten Ihr persönliches Gedicht. Jana Berwig, Gesang und Gitarre, verzaubert mit ihrer wunderschönen Stimme. Steffen Marciniak, Dichter, Verleger und Herausgeber, stell feine Poesie aus seiner Reihe "Lyrik der NEUN" vor. 

Am 12. März 2024 um 20 Uhr in der Reha Seehof, Teltow, Lichterfelder Allee 55

Freitag, 19. Januar 2024

Rezension "Prinzenverstecke" (S. Marciniak) bei Signaturen-Magazin

Rezension von Florian Birnmeyer im Magazin Signaturen zu Steffen Marciniaks Gedichtband Prinzenverstecke (Januar 2024):


Link:
 

Es gibt Gedichtbände, die bestechen durch ihre Komposition, durch ihre ausgearbeitete Struktur ebenso wie durch Sprache und Rhythmus. Zu diesen lyrischen Werken gehört Prinzenverstecke, ein schmaler Band aus dem Hause Lyrik Edition NEUN, dem man mehr zutrauen darf, als der bescheidene Umfang von 27 Gedichten zunächst vermuten lässt.

Steffen Marciniak begibt sich in den drei mal neun Gedichten, die jeweils einem inhaltlich bzw. formal strukturierenden Thema (PrinzenversteckeZiffermythenNordlauschen) untergeordnet sind, auf die Suche nach dem Verlorenen, dem versteckten Prinzen, der bukolischen Liebe, die er in mythischen Landschaften und nordischen Gefilden zu finden hofft.

Nicht Edelweiß noch Miere weisen den Weg
Zu einem arkadisch durchflößten Leben ⋅ für mich
Und dich ⋅ bis dann Basaltgesteine anheben:

 

Zu einer Steinblume  die ein Geländer bildet
Um neunundneunzig Stufen zu einer Pforte
Hinter der ich deine geheime Insel vermute.
 
(Steinblume)

Marciniaks Lyrik ist gerichtet auf die – nicht blaue, aber doch romantisch verklärte – Blume, die im ersten Teil des Bandes mal als Wüstenblume, dann wieder als Steinblume und schließlich als Meeres-, Schnee- oder auch als Feuerblume vorkommt. Das lyrische Ich durchlebt die verschiedenen Stadien der natürlichen Elemente und wechselt zwischen Utopie, Bukolik, Melancholie und Prinzenversteck, dem idealisierten und geliebten Du der Gedichte, hin und her.

Ich schreite voran und schreie nach dem Sinn
Dieser schroffen Wüste voll rauer Sedimente
Doch ich finde den See mit den rosa Flamingos.
 
(Salzblume)

Im zweiten Teil des Bandes gibt die Ziffernlogik von 1 bis 9 den Gedichten eine Struktur vor, dazu kommt eine mythologische Thematik, gerade so als sollte die leidenschaftliche Aussage der vorangegangenen neun Gedichte durch die neu gefundene Ordnung aufgewogen und ins dialektische Gegenteil verkehrt werden. Während sich Gedicht 1 dem ersten Menschen der Bibel, Adam, widmet, folgt mit dem zweiten Gedicht ein mythologisches Werk über die Dioskuren usw.

Mythologie und Nummernsymbolik verbinden sich bei Marciniak gekonnt, auch wenn dies manchmal wie ein in der neueren Lyrik ungewohntes Korsett wirkt. So begegnen wir im Gedicht Vier Ströme den vier Elementen, den vier Erzengeln und den vier Himmelsrichtungen genauso wie den vier Tageszeiten und Jahreszeiten:

Über dem Obelisken  der an den Himmel reicht
Ahne ich die Blitze aus Glanz der vier Thronengel
Michael  Uriel  Gabriel  Raphael. Am Weltentisch
Lenken sie meinen Blick in vier Sonnenrichtungen:

 

Afrika im Süden  am Nil  gehüllt in Vergangenheit
Der ersten Menschen  die hier aufgetaucht sind.

Wer vermutete hier den Quell des Entstehens? 


Marciniak schreibt eine formal sehr ausgeklügelte Lyrik, die mitunter ein wenig zu sehr auf die Gelehrsamkeit und die mythologische Erlesenheit setzt und darüber ins Prosaische hinübergleitet. Stark ist Marciniaks Dichtung dort, wo er Erfahrung, Gefühl und Mythologie, Sage, Märchen zu einem wirkkräftigen Ganzen verbindet:

Im Klingen erwacht aus dem Schlafe die Nacht 
Die Mondlibellensichel leuchtet den Flügelwesen
Ihren Weg. Wie Glühwürmchen im Pizzicatoschritt
Finden elfische Gäste sich zur Mittsommernacht ein.

Dies trifft vor allem auf den dritten Teil des Bandes zu, der nordische Sage mit Reise- und Lebenserfahrungen in Lettland, Litauen, Norwegen, Dänemark sowie klassischen Musikstücken kombiniert, die man als Ergänzung zu der Lektüre anhören kann (Genannt wird zu jedem der neun abschließenden Gedichte ein Komponist mit Musikstück). Marciniaks Gedichte in diesem Teil sind im Grunde poetische Kommentare zu der Musik, die diese in lyrischer Form weiterentwickeln, in einer raffinierten Verknüpfung verschiedener Kunstformen und Gattungen.

So zum Beispiel in Lettische Farben (Musikstück: „Regenbogen“ von Janis Ivanovs):

Siebenmal blitzt im Regenbogen der Harfenhall,
Die Schar der Geigen schiebt Nässewolken fort
Und letzte Tropfen malen den Farbenkreis.
 
Mal ruhig, mal düster, mal persönlich, dann wieder poetologisch zu lesen fährt Marciniak in diesem letzten Teil noch mal alle Geschütze auf und wechselt häufig die Tonart und Sprechweise. Persönlich wird es beispielsweise in Schwedische Nächte, wo die Dichotomie aus Utopie, Ideal, idealisierter Liebe und Traurigkeit und Melancholie wiederkehrt:

Traurigkeit schmelzt [sic!] meine Kraft  wenn andere
Spotten  weil ich süße Worte dir widme  wie
Auch den Engeln oder Epheben – Da trittst du
Auf meine Schwelle und lockst mich ins Freie.

Im letzten Gedicht des Bandes Ukrainische Gebete wird die Komposition von Valentin Silvestrov aus dem Jahr 2014 von Marciniak poetisch kommentiert, wobei das Gedicht durchaus politischer und kämpferischer hätte formuliert sein dürfen.

Ein Gebet den Verteidigern  denen mit jedem Ruf
Der Geige  eine Blume aus der Heimaterde wächst 
Mit weißen Blüten aus Schmerz. Über Dornen weht
Der Wind zum Traum  einer Rückkehr in die Freiheit.

Marciniaks Domäne ist jedoch nicht der Kampf, sondern das Individuum, die Sage, das Bukolisch-Gefühlvolle. Er ist ein mythologisch belesener und vorgebildeter Lyriker, der sich in der Utopie und im Altertum zuhause fühlt, auch wenn das in unseren Zeiten nicht überall Anklang findet.


 

Dienstag, 16. Januar 2024

Rezension zu Gabriel Wolkenfelds "Nebelatlas" von Klaus Anders auf "Lyrikkritik"

 
Rezension von Klaus Anders auf: 


Tartarin mit Stöpseln im Ohr

– Notizen zu Gabriel Wolkenfelds Gedichtband Nebelatlas (Ukrainisches Album) –
Dezember 2022, zehn Monate nach Putins „Blitzkrieg“ gegen die Ukraine, erschien im Verlag der 9 Reiche ein Band mit 25 Gedichten von Gabriel Wolkenfeld. “Mein Band ‚Nebelatlas (Ukrainisches Album)‘ mit 25 Gedichten zu Orten in der Ukraine – Begegnungen mit Land und Leuten, alltäglichen Beobachtungen, Ergebnis meiner jahrelangen Beschäftigung mit ukrainischen Künstlern und Künstlerinnen und Autoren und Autorinnen, Erinnerungen an meine Zeit in der Ukraine…“ schreibt der Autor auf seiner Website. Ein knappes Jahr später bekam ich diesen Band, der mich schon beim ersten Hineinlesen fesselte. Die Faszination hat auch nach dem vierten Lesen nicht nachgelassen.

Die im Zank entzweiten werden sich nicht mehr
vertragen, aber vielleicht einigen sie sich darauf,
dass sie eine Mutter haben.


Damit ist am Ende des ersten Gedichts (Kyjiw I) eine Hoffnung ausgedrückt. Ob sie realistisch ist? Vielleicht in fernerer Zeit mit einem anderen Russland und einer weiterhin freien Ukraine. In den folgenden Texten wird diese Hoffnung nicht mehr aufgegriffen, der Autor verkneift sich den Blick in die Zukunft.

An den Ständen auf dem Andreassteg werden
T-Shirts angeboten, mit Dill oder Dreizack bedruckt.
Besonders populär: ПТН ПНХ


(aus: Kyjiw II; Anmerkung des Rezensenten: ПТН ПНХ heißt übersetzt: “Putin, verpiss dich!“)

*

Etliche der Gedichte bestehen aus einer Abfolge von Bildern, Situationen, Reflexionen, die jeweils für sich stehen, nicht durch ein chronologisch oder logisch kittendes Narrativ verbunden sind. Dazwischen weißer Raum, Leere. Die Sprache knapp.

Sie mit der DNA einer Wundertüte, mir
war, als sprächen sie im Windschatten der
Armenischen Kathedrale das Schma Jisrael.
Chamäleon unter den Städten, Raufaserseele,
europäisches Fabrikat, Folklore als Zitat.
Blasse Dame, grüner Schnabel.

 
(aus: Lwiw II)

Lwiw, auch Lemberg geheißen, hatte 1931 eine ethnisch gemischte Bevölkerung, die zu 50% polnisch und zu 32% jüdisch war. Dazu kamen 16% Ukrainer und in geringer Anzahl Deutsche, Armenier u.a. Russen lebten damals dort nur 0,2%. Nach der Besetzung durch Nazideutschland, dem Krieg und der Übernahme durch die Sowjetunion lebten 1959 in Lwiw noch 4 % Polen und 6% Juden, jedoch 60% Ukrainer und 27% Russen. „Bevölkerungsaustausch“, von den Nazis begonnen, von der Sowjetunion vollendet. 2001 lag der Anteil der Juden nur noch bei 0,3 %, der der Polen bei 0,9%.

*
Die uralte Stadt Jalta, von der die Mutter Kyjiw im ersten Gedicht augenzwinkernd sagt: mein Mädchen Jalta, die Stadt, die mitsamt der Krim 2014 von Russland annektiert, „heim ins Reich“ geholt wurde, weil sie nach Putins Worten russisch sei, wurde vor etwa 2600 Jahren von Griechen gegründet, fiel später u.a. an Byzanz, an Genua, an das Osmanischen Reich und – für weniger als ein Zehntel der Dauer ihrer Geschichte – an Russland.

Strand, der nicht Strand sein darf. Das Gebirge den
Göttern entwendet, Wolken in Umbra, Pinien,
kobaltblaue Zypressen, Palmen.
(…)
Tartarin mit Stöpseln im Ohr. Sagt, sie
wolle nichts von wissen.
Von Rentnern okkupierte Jahrzehnte, Badende ohne Untertitel. Gesagt wird nur, was gedruckt zum Nachsprechen vorliegt.
(…)
Fürchten muss man sich von den Übergriffen der
eigenen Geschichte. Die Herren Zaren mit ihrer
Vorliebe fürs Haben, Großmannsmut der kleinen
Geister.
Halte dich an die Marktweiber. Die tragen
Gold im Mund.

 
(aus: Jalta)

*
Knappheit der Sprache beflügelt meine Fantasie. Mir war oft im Nachklang des Lesens, als hätte ich eine zeitlich und räumlich ausladende Darstellung gesehen, lange Einstellungen mit teils verlangsamter Bewegung, die mit abrupten Schnitten enden und einer neuen Bildkonstellation beginnen.
*
Männer in Fledermausgarderobe fassen sich unter.
Frauen aus Seide und Leinen verteilen, mit
aufgemalten Gesichtern, Glückwünsche.
Die Braut? Verschwindet unter dem Schleier,
der ihr zur Heimat wird. Der Bräutigam?
Tanzt ausgelassen in seinem Totenkleid:
babylonisches Repertoire.

 
(aus: ‚Odessa II‘: eine jüdische Hochzeit)

Das von der Braut für den Bräutigam hergestellte Totenhemd bei der Hochzeit zu tragen, unter der Oberbekleidung, ist ein Brauch, der sowohl im orthodoxen Judentum als auch im Christentum über lange Zeit in manchen Regionen üblich war.

*

Anspielungen in den Gedichten zahlreich. Einigen konnte ich auf die Schliche kommen, andere blieben mir verschlossen oder ich konnte sie nicht zuordnen. Aber ist das so wichtig? Muss man alles „verstehen“? Ist die Dunkelheit eines Gedichts oder von Versen eines Gedichts nicht erst einmal hinzunehmen, in sie hineinzulauschen, anstatt sie in einem übergriffigen „Aufklärungs“impuls zu „entschleiern“ – was doch mitunter nichts anderes bedeutet, als dass dem Gedicht eine bestimmte Sicht übergestülpt wird und damit eine Beschränkung? Werden nicht manchmal sogar Verse, die auf den ersten Blick ganz klar erscheinen, bei längerer Be- trachtung immer dunkler, fremder, unzugänglicher? Der österreichische Psychiater Christian Scharfetter (1936 – 2012) empfahl einem jungen Assistenzarzt für den Umgang mit unzugänglichen Patienten, dass Zurückhaltung angesagt sei. Nicht im Verstehen-Wollen des Patienten liege der Schlüssel, sondern im gemeinsamen Erleben des Befremdlichen, wozu eine gewisse eigene Selbstentfremdung nötig sei. Erst dann könne – gemäss jenem alten griechischen Satz – Gleiches durch Gleiches erkannt werden, und sei es nur in wenigen Punkten Vergleichbares.

*

Der Band schließt mit Huldigungen an die drei „gealterten Empfangsdamen“ eines Studenwohnheims in Sumy. Die erste trägt (Zufall?) den Namen einer us-amerikanischen Dragqueen: Jekaterina Petriwna.

Mäusekönigin aus einer Zeit vor den Revolutionen,
Patronin der Pädagogen, am Stadtrand von
Sumy steht dein Domizil, Kaleidoskop aus
Kakerlaken, Sepiafassade, rostbrauner Rhabarber.


Dann Lidija Mykolajiwna:

Das Luftholen einer Nachtigall zwischen
zwei Tönen, der Flügelschlag eines Falters,
solcher Art sind deine Gesten.
Nur wenige Frauen wissen so subtil
Katastrophen auszulösen.
Ein Lächeln, erinnerst du dich, unvorsichtig
hingeworfen, der junge Mann lief in die Kutsche.
(…)

Du sitzt einfach nur da, kämmst dir das Haar.
Du weißt, wie es ist, einmal schön
gewesen zu sein.


Und zuletzt Sofija Romaniwna:

Rotflammendes Haar, Goldzahn, liebste Baba Jaga,
ohne deine Blitze kein Beben, dein Lachen
nie ohne Donner, stürzt die Welt ins Chaos.
Augen aus Asche, eine Stimme, als träfen sich
Stiefel und Kiesel. Wenn ich mich mal verspäte,
verwandle mich nicht in einen Hahn…


*

Ebenso wichtig wie das Gesagte und Dargestellte ist das Nicht-Gesagte, das Unsichtbare, das immerzu im Raum steht: Der Frieden ist nur eine flüchtige Phase zwischen mörderischen Ereignissen. Dem letzten zurückliegenden Krieg folgte der jetzige, dem vergangenen Pogrom wird das künftige folgen.
Viele der in dem Band genannten Städte wiesen früher einen hohen Anteil von Juden in der Bevölkerung aus. Lwiw, Poltawa, Iwano-Frankiwsk, Kamjanez-Podilskyj, Hluchiw: In der Vergangenheit Pogrome und Massaker, wohin man schaut. Die Vernichtung der mittelosteuropäisch-jiddischen Sprachwelt. Hierüber schweigt der Autor weitgehend, schreibt über das, was er, als er dort war vor einigen Jahren war, erlebte und beobachtete, öfter deutet er das Vergangene an.

Karpatenspross im Vorgebirge, galizische Schöpfung.
Erzogen nach Vorbild der österreichischen Monarchie,
Ziegeldächer in Rostfarbe, Kirchen und Kathedralen.
Ukrainisch verköstigt, köstliches jiddisches
Wort, sowjetische Norm.
Du bist der Beweis, dass ein Pass nichts ist
gegen die Raublust der Diktatoren, Buchstaben,
Zahlen, geschrieben mit Asche auf Asche.

 
(aus: Iwano-Frankiwsk)

*

Nur zuweilen tritt der gegenwärtige Krieg voll ins Licht:

Beidseitig gelähmt sind die Träume, abgeschnitten
die Fluchtwege. Der Tod kommt per Anhalter. Von
den Sevanchuks nimmt er die jüngste Tochter mit
und die Alte, die vorgestern noch am Kiosk stand.
In unserem Haus halten alle Stellung: Oma bindet
mit dem Kleinen Schleifen in Tarnfarben um die
Schlaufen des Maschendrahtzauns.
Wir mischen, wenn Sascha schläft, Explosives
in Flaschen. An den Schrank darf er nicht ran. Er weiß:
Dort sind die Geschenke für die Befreier.


(aus: Kriegstagebuch II)

*

Das Gedicht ‚Tscherniwizi II‘ ist der 18-jährig in einem Arbeitslager der SS an Fleckfieber verstorbenen jüdischen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger gewidmet:

In tiefster Finsternis erfand sie Farben.
Sie nähte sich ein dünnes Kleid aus Spinngeweb,
Moos und Farnen. Den kurzen Weg nahm sie sich zum
Geliebten und an den Freund schrieb sie: Geh mir
nicht nach, mein Gehen ist Vergehen.


*

Bemerkenswert an den Texten dieses Bandes finde ich ihre Diskretion. In einer Zeit, in der es alltäglich geworden ist, von der eigenen Herkunft zu schreiben, hält der Dichter sich zurück. Er plaudert, klagt und hadert nicht, reißt sich die Brust nicht auf, wirft nicht mit zeitgeistgesättigten Stichworten um sich und schafft so, mittels der sehr eigenen Sprachtracht und Musik der Gedichte, eine Distanz. Erst solche Distanz „trifft ins Herz“, führt (für mich – andere mögen es anders wahrnehmen) zu der Nähe, die das vermeintlich Unmittelbare einer Aussage, die sich um Stil, Form und dgl. angeblich nicht kümmert und der es nur um „Inhalt“, um Authentizität geht, im Gedicht letztlich nicht erreichen kann.
*
In ‚Babyn Jar‘ betrachten wir eine Sonntagsidylle: Sommernachmittag bei Picknick und Grill nahe der Schlucht. Nur ein Halbsatz deutet an, was hier geschah, dass Ende September 1941 in dieser Schlucht bei Kyiv innerhalb von 48 Stunden über 33.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder hingemetzelt wurden: Er weiß nichts von Juden…
 
Es ist hier nicht nur die oft beklagte Erinnerungslosigkeit späterer Generationen. Im Gegenteil: diejenigen, die den Krieg erlebten, verdängen und vergessen ihn, kaum vorbei, trotz aller Gedenkfeiern und Mahnungen geradezu leidenschaftlich. Ich denke zurück an die 50er und frühen 60er Jahre: Trotz des geräuschvollen Wiederaufbaus hörte man das Gras wachsen und war stets in Angst vor einem nahe bevorstehenden 3. Weltkrieg, gleichzeitig aber verhielten sich die Leute (zumindest außerhalb der Familien), als hätte es die Nazi-Diktatur und den Krieg nicht gegeben. Mich erstaunt und erinnert die Selbstverständlichkeit, mit der das nachwachsende Leben die Höllen der Vergangenheit überwuchert, an den Satz Kafkas über den Panther am Schluss der Erzählung ‚Ein Hungerkünstler‘: „Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht einmal die Freiheit schien er zu vermissen; dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiß schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, dass es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten.“

Ein Junge verkauft aus seinem Wagen heraus
Coffee-To-Go. Die Pilger schickt er in keine
Richtung.
Er weiß nichts von Juden, weiß nicht, dass die
Stadt ihre Toten eingemeindet hat.
Aus den Gräben dröhnt Pop. Familienväter
stehen am Grill, wenden, sobald es schön
knusprig ist, das Fleisch.
Ihre Söhne jagen Bällen hinterher. All ihre
Kraft legen sie in den Schuss.


Einige Jahrzehnte zuvor sagte die Zeugin Dina Pronitschewa aus: „Eine nackte Mutter verbrachte ihre letzten Augenblicke damit, ihrem Säugling die Brust zu geben. Als das Baby lebendig in die Schlucht geworfen wurde, sprang sie hinterher.“
 
Klaus Anders

Nebelatlas. Ukrainisches Album. Gedichte von Gabriel Wolkenfeld, Gabriel, Verlag der 9 Reiche, Berlin 2022

 

 

 

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