Poetische Potenzen
Steffen Marciniak: „Prinzenverstecke“
9. Oktober 2023 – Rezension von Thomas Rackwitz
Link zur Rezension ... auf der Seite von Zugetextet.com:
„Prinzenverstecke“ heißt der neue Gedichtband von Steffen Marciniak.
Er erschien im Laufe des Jahres 2023 in der Lyrik-Edition NEUN. Hier ist
der Name Programm. Die Zahl 9 steht im Mittelpunkt, auch des
zugehörigen Verlags der 9 Reiche. Nicht ganz zufällig fiel Marciniaks
Reihen-Debüt auf die 9. Wie die anderen schmalen Bücher der Reihe ist
auch dieses kunstvoll gestaltet und mit mehreren Linolschnitten des
Künstlers Steffen Büchner versehen. Marciniaks Hang zur Form lässt sich
nicht nur an der äußeren Gestaltung des Buches ablesen, sondern auch an
der Form der Gedichte. Insgesamt beherbergt „Prinzenverstecke“ 27
Gedichte, die sich auf 3 Zyklen zu je 9 Gedichte unterteilen.
Schon im ersten Teil, der sich vordergründig um existente und
phantasierte Blumen dreht, ist die Zahl 9 als Sinnbild der
Vollkommenheit formal betrachtet von Bedeutung. Die Gedichte bestehen
aus drei Strophen zu je drei Versen, durchtränkt von Binnenreimen und
Alliterationen. Und diese Verse haben es in sich. Oft werden hier
scheinbare Gewissheiten konterkariert, wenn das Übernatürliche ins Bild
gerät, so etwa im Gedicht „Feuerblume“. Dort „gleitet“ die Lava
„langsam“ den „erschöpften Berg“ hinab. Auf der zweiten Sinnebene wird
deutlich, dass es sich an vielen Stellen im ersten Zyklus um
erotisierende Gesten handelt. Allerdings bleibt es bei einem einseitigen
unterwürfigen Versuch, mit dem lyrischen Du Kontakt aufzunehmen bzw. es
aus seinen Verstecken zu locken. Erst im letzten Vers des
ersten Zyklus kommt es zur Verschmelzung des lyrischen Ich mit dem
lyrischen Du („Wir umfangen uns beide“).
Eine ähnliche Verletzung scheinbarer Sicherheit findet sich im
Gedicht „Meeresblume“. Hier umschäumt Gischt „die Grotten der Götter“,
und zwar in den „abgründigen Meerestiefen“. Neben der gehobenen
Sprache („Demanten“, „entschwunden“) weiß Marciniak mit Neologismen wie
„cirruskraus“ (aus „Wolkenblume“) zu überraschen. Obendrein sollte die
expressionistische Emphase („Ein Sturm rollt“) nicht unerwähnt bleiben,
die zwischen den Versen hindurchschimmert, wenngleich sie vom Wesen her
eine Generation früher zu verorten sind und an Stefan Georges Kreis
erinnern. Obwohl sich Parallelen zu George nicht von der Hand weisen
lassen (wie ein Verweis im Gedicht „Acht Winde“ suggeriert), sind es
Marciniaks Einschübe, die diesen Versen eine Eigenständigkeit
zugestehen.
Auch im zweiten Zyklus, in den „Ziffermythen“, wie der Name es
bereits vermuten lässt, geht es um Zahlen, allerdings inkrementell.
Während die ersten Verse sich um die biblische Schöpfungsgeschichte
drehen, verlagert sich das Setting im zweiten in die griechische
Mythologie. Passenderweise weist das Dioskuren-Gedicht als einziges in
diesem Zyklus keine Strophen auf („nie mehr getrennt“). Es folgen
weitere bildstarke, sinnliche Gedichte, in denen Marciniak es schafft,
seine Verse zum Leuchten zu bringen, die auch synästhetische
Untermalungen finden. Insbesondere „Drei Orangen“ fällt hier positiv ins
Gewicht. Je mehr Zahlen in Spiel kommen, desto offener gestaltet sich
die darin beschriebene Welt („Wir Elemente verschmelzen im Universum“).
Trotz aller Weitläufigkeit und unterschiedlichster Mythologien, die das
Rückgrat dieser Gedichte bilden, taucht ein Motiv wiederholt
gedichtübergreifend auf: die Einsamkeit des Betrachters.
Im dritten und letzten Zyklus geht es in den hohen Norden und in den
Sonnenuntergang. Auffällig ist hier, dass den Gedichten eigene QR-Codes
beigegeben sind. Diese wiederum führen zu verschiedenen Symphonien, die
die Musikalität („Nordlauschen“) der Verse nochmals unterstreichen.
Waren die Gedichte im ersten Zyklus voll Hoffnung, im zweiten teilweise
hymnisch, ist der Grundton im letzten Zyklus elegisch, ja geradezu
vergiftet morbid. Es sind unwirkliche Schauplätze, in denen man die
Verwesung regelrecht riechen kann: „In das faulige Seegrashaar der Hexe
Kalma.“ Im letzten Gedicht des Zyklus verlässt Marciniak den
traumwandlerischen, mythologischen Pfad der Winterländer und findet sich
mit „Ukrainische Gebete“ auf dem tagesaktuellen, politischen
Schlachtfeld wieder. So schließt sich der Kreis, denn Gebete sollen vor
allem zweierlei: nicht auf taube Ohren stoßen und die Hoffnung (des
Anfangs) vervielfachen. Und das sei auch dem Autor dieses
bemerkenswerten Gedichtbandes gewünscht.
Steffen Marciniak: Prinzenverstecke, Gedichte, Verlag der 9
Reiche, Berlin 2023, ISBN 978-3-948999-09-4, 32 Seiten, 125×190 mm,
Fadenbindung, illustrierte, nummerierte und signierte Ausgabe. Euro
9,00.