Die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik mit Sitz in Leipzig empfiehlt monatlich einen Lyrikband. Der Band Heimathaut von Patrick Hattenberg wurde Empfehlung des Monats Januar 2023.
Link zur Rezension:
GZL – Januar 2023 – Empfehlung des Monats von Martin A. Völker
– Ausbruch ins Menschsein –
Die Corona-Pandemie hat im Kulturbereich immense Schäden bewirkt.
Durch ausgefallene Buchmessen und Lesungen sowie durch gestoppte
Verlagsprogramme sind Erwerbsquellen versiegt. Der ökonomische Schaden
wird jedoch von dem emotionalen noch überragt: Kunst ist nämlich
Kommunikation, und Kulturprodukte tragen überlebenswichtige Emotionen
hin und her, sie geben Gefühlsanstöße, wo Denkanstöße unzureichend
bleiben.
Deshalb ist es ein großes Glück, wenn nach dem pandemischen
Orkan Kleinverlage wie zarte Bäumchen emporstreben und mutiger als so
mancher Großverlag für reife Lesefrüchte sorgen. Die Lyrik-Edition NEUN
im Verlag der 9 Reiche von Steffen Marciniak ist ein wahrer
Juwelenkasten, in dem es funkelt und blitzt. Lyrik findet eine Sprache
für Erlebnisse und Dinge, die so schön oder auch so schmerzhaft sind,
dass sie die Betroffenen in drückender Sprachlosigkeit zurücklassen. Mit
der Aufgabe, dem inneren Menschen zu Stimme und Ausdruck zu verhelfen,
vereinigt sich der Künstler mit dem Psychologen.
Der Lyriker Patrick
Hattenberg ist beides von Profession: Bei der Bundeswehr arbeitet er als
Truppenpsychologe in der Krisenintervention, als Schriftsteller gewann
er 2022 den Hanns-Meinke-Preis für junge Lyrik. Seine preiswürdigen
Gedichte liegen als Band 7 von Marciniaks Edition vor. Der Titel
„Heimathaut“ umspielt den Menschen als Bezugswesen. Erst die atmende
Anwesenheit im Raum und die körperlich-emotionale Ortszugehörigkeit
machen den Menschen zum Menschen. Hattenberg findet mit dem Titel eine
starke Metapher dafür, was passiert, wenn die den Menschen wie eine Haut
umschließende Heimat rissig wird oder durch äußere Angriffe bedingt in
Fetzen herabhängt. Die ersten neun Gedichte zeigen den zu einem
Nicht-Ich umgewandelten Menschen: abgeschnitten von der Außenwelt und in
einen unwürdig kleinen Raum gesperrt. Wir alle könnten, wenn wir
sprachmächtig genug wären, ein Lied davon singen, wie schnell das
gelobte Homeoffice zu einem Gefängnis wird. Hattenberg beschreibt
zugleich den emotionalen Ausnahmezustand, in den Menschen geraten, wenn
sie ihr Gefängnis verlassen dürfen: „Weinen will ich stundenlang im
Park“, heißt es in „Rasselatmung“. Der Autor hält ein eindringliches
lyrisches Plädoyer für das Sich-Begegnen: In virtuellen Räumen nehmen
wir zwar andere Menschen wahr, aber wir begegnen ihnen nicht. Zur echten
Begegnung gehört der Blickkontakt, dem die Berührung folgt wie die
Wärme der Nähe oder die Feststellung, sich riechen oder nicht riechen zu
können. Eingesponnen sind Menschen in ihre, wie Hattenberg es
formuliert, „Sinnennetze“. In ein solches verwickelt er auch seine
Leserschaft und gibt ihr damit ein Stück der verlorenen Lebendigkeit
zurück.
Martin A. Völker
Patrick Hattenberg: Heimathaut. Gedichte, mit Grafiken von
Steffen Büchner, Berlin: Verlag der 9 Reiche, 2022 [=Lyrik-Edition NEUN,
Bd. 7, hrsg. von Steffen Marciniak]. 32 Seiten.